A. B. Fisher u.a. (Hrsg.): Imperial Subjects

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Title
Imperial Subjects. Race and Identity in Colonial Latin America


Editor(s)
Fisher, Andrew B.; O’Hara, Matthew D.
Published
Extent
304 S.
Price
€ 61,55
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Nikolaus Böttcher, Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin

Der Band „Imperial Subjects“ umfasst neun Beiträge, die sich mit der Problematik von staatlicher Herrschaft und Identität bzw. Herkunft der Untertanen als zentralem Phänomen der Geschichte Lateinamerikas befassen. Vor dem Hintergrund der politischen und kulturellen Transformationen, die Lateinamerika zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert erfuhr, wird die Frage erörtert, wie sich europäische Siedler, die indigene Bevölkerung Amerikas und afrikanische Sklaven sowohl als Individuen als auch als Mitglieder von Gemeinschaften sowie schließlich als imperial subjects definierten. Die Beiträge behandeln die Interaktion zwischen den ethnisch, politisch und wirtschaftlich geprägten Gemeinschaften sowie die Diskrepanzen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor.

Die Artikel setzen durch die Vorstellung von Fallstudien regionale und zeitliche Schwerpunkte. Die Vizekönigreiche Peru und Neu-Spanien in der Zeit nach der Conquista bzw. während der Bourbonischen Reformen werden dabei ebenso bedacht wie die vermeintliche Peripherie des Kolonialreichs am Beispiel von Venezuela, Bolivien und Cuba im ausgehenden 18. Jahrhundert sowie Brasilien und abschließend Mexiko nach der Unabhängigkeit. Der zeitliche Rahmen ist damit vom 16. Jahrhundert bis in die Zeit der Nationalstaaten gespannt.

Eingefasst werden die Artikel von einer theoretisch untermauernden Einleitung der Herausgeber O’Hara und Fisher sowie einer präzisen und weiterführenden Zusammenfassung von Douglas Cope. Die Einleitung stellt vor allem die gesellschaftliche Terminologie vor und gibt einen knappen Überblick über die Forschung von Magnus Mörners bahnbrechendem „Race mixture in the History of Latin America“ (Boston 1967) über Peter Wades „Race and Ethnicity in Latin America“(Sterling, Va. 1997) bis hin zu dem den Band leitenden theoriebildenden Aufsatz von R. Brubacker/F. Cooper „Beyond Identity“.1

Um die Relevanz des Themas hervorzuheben, sollen der historische Hintergrund sowie die grundlegende Terminologie- ¬beides wird in der Einleitung der Herausgeber konzise vorgestellt-¬ hier knapp erläutert werden: Mit der Expansion Kastiliens nach Amerika musste der frühabsolutistische Staat neue Ordnungsprinzipien für die heterogene Gesellschaft entwickeln, um der gesellschaftlichen und kulturellen Diversität Herr zu werden. Die Vermittlung christlicher Werte verlief parallel mit der Verankerung des spätmittelalterlichen Feudalsystem Kastiliens und übertrug deren Prinzipien von Inklusion und Exklusion nach Hispanoamerika. Das Prinzip der limpieza de sangre („Reinheit des Blutes“) erfuhr damit eine wachsende Bedeutung. Die reine christliche Abstammungslinie wurde zum Kriterium, das die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bestimmte, und damit auch zu einem Instrument gesellschaftlicher Ausgrenzung. Die Legitimität der Herkunft und der Eheschließung sollten die Übertragung und Wahrung des christlichen Wertesystems in Amerika garantieren. Die anfangs angestrebte neue Gesellschaft der Indias zerfiel in zwei getrennte Gemeinwesen, die república de españoles und die república de indios. Doch dieses Konzept der Trennung scheiterte. Die Realität war schon nach einer Generation eine Mischgesellschaft. Dazu kamen immer mehr Sklaven aus Afrika und Emigranten aus Europa.

Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts versuchte die Kronverwaltung, die koloniale Ordnung durch die Segregation der verschiedenen Bevölkerungsgruppen nach ethnischen und sozialen Kriterien aufrechtzuerhalten. Aber auch wenn die weiße Bevölkerungsschicht die Macht für sich in Anspruch nahm, stand nicht ihr allein der Zugang offen. So machte das Entstehen dieser überaus mobilen sociedad de castas in den Kolonien die Durchsetzung der mittelalterlich hierarchischen Werte- und Gesellschaftsordnung im Mutterland unmöglich. Herkunft (linaje, calidad), Religion und Reinheit bestimmten die Zugehörigkeit zur privilegierten Schicht, während jede Art von „Rassenvermischung“ (mezcla de raza) den Ausschluss bedeutete. So mussten Strategien entwickelt werden, um sich in einer mehrheitlich mestizisch geprägten Gesellschaft hervorzuheben. Der soziale Status einer Person konnte nicht allein durch die ethnische und familiäre Herkunft, sondern auch durch Wohlstand und Ämterkauf erhöht werden. So wurde die Überschreitung der Grenzen zur Norm. Mestizen fanden nun Zugang zu cabildos (Stadträten), Zünften, Bruderschaften und sogar zum Klerus. Biologisch-rassistische Ausgrenzung betraf aber auch die Mulatten, die sich durch die Überwindung der barrera de color „aufzuweißen“ versuchten. Den Verdacht des ‚unreinen’ Blutes einer Person konnte der Hinweis auf dessen „verdächtige Hautfarbe“ (color sospechoso) zur gesellschaftlichen Diskriminierung ersetzen.

Diese Ausführungen bilden die notwendige Grundlage für die Einordnung der vorliegenden Beiträge zu staatlicher Gesellschaftsformung, Widerstand und individueller sowie kollektiver Identitätsbildung. Jeremy Mumford setzt chronologisch am frühesten ein und gibt eine didaktische Einführung zum Konflikt von lokalen indigenen Eliten, encomenderos und Kronbeamten. Diese klassische Konstellation des 16. Jahrhunderts wird am Beispiel der Wanka in Peru illustriert, die sich im Kontakt mit den Europäern neu erfanden und – im Gegensatz zur zweiten Conquistadoren-Generation – erfolgreich eine hybride Identität durch eine partielle Anpassung an die integrative spanische Kronpolitik ausbildeten. In Ergänzung dazu werden in Jane Mangans Beitrag solche Anpassungsstrategien und sich daraus ergebene Identitätsveränderungen fast zeitgleich für indianische Marktverkäuferinnen in Potosí im ausgehenden 16. Jahrhunderts beobachtet. Besonderes Interesse verdient hier die Vermischung von Gender Studies und Wirtschaftsgeschichte. Regional und chronologisch wird der Betrag um die Ergebnisse von Sergio Serulnikov über Kreolen in La Plata/Charcas im 18. Jahrhundert erweitert.

Der Aufsatz von David Tavares führt zur für das Thema unumgänglichen Beschäftigung mit der Inquisition. Nachdem die Inquisition in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt als Kontrollinstanz überschritten hatte, wurden ihr Aufgaben der gesellschaftlichen Neuordnung der Gesellschaft zuteil. Die Inquisitionstribunale agierten im Interesse der weißen Kolonialeliten, die sich von der sociedad de castas abzuheben bemühten. Die Menschen wurden nach ihrer Abstammung und dem Anteil ihrer europäischen weißen, indigenen und afrikanischen Vorfahren systematisch geordnet. In Ausnahmefällen konnten aber gleichzeitig, wie die hier vorgestellten case studies (in Ergänzung zu ähnlichen Fällen wie zum Beispiel in den Arbeiten von Solange Alberró) zeigen, die tatsächliche soziale und ethnische Zugehörigkeit des Individuums verhandelbar und die vermeintlich festen Kategorien der castas-Gesellschaft durchlässig werden.

Cynthia Radding wendet sich von staatlichen Institutionen ab und steuert eine Vergleichsstudie über Grenzregionen im nordwestlichen Neu-Spanien und dem Tiefland um Charcas bei. Hier werden kulturelle Entwicklungen bei der Ausbildung einer Kollektividentität um demographische und ökologische Faktoren erweitert. Formen von indigener Anpassung und Widerstand zeigen die Widersprüche und Grenzen des idealtypischen Modells der zu trennenden repúblicas.

Die Autorinnen María Elena Díaz, Mariana Dantas und Ann Twinam konzentrieren sich auf die afro-stämmige Bevölkerung in Cuba, Brasilien und Venezuela: Besonders Mulatten gerieten als Kollektiv durch den Anteil an afrikanischer Herkunft in die Gefahr der Exklusion, sei es durch die Inquisition oder andere öffentliche Institutionen. Ihnen wurde ein ganzer Kanon moralischer Verfehlungen vorgeworfen wie Blasphemie, Zauberei, unehelicher Beischlaf und vor allem Bigamie. In den Beiträgen zeigen sich lokal verschiedene Formen der Auseinandersetzung von Seiten der afrikanischen Bevölkerung mit den Ausgrenzungsmechanismen der Gesellschaft. Das außergewöhnliche Quellenmaterial aller drei Artikel (vor allem im Falle von El Cobre) macht hier den Kampf um soziales Überleben und Strategien der Umgehung von Exklusion („Dialog mit dem Staat“ unter Ausbildung einer kollektiven „Afro“-Identität durch ehemalige Sklaven in Cuba und Minas Gerais, käufliche „Aufweißung“ von pardos in Venezuela) zu den anschaulichsten und innovativsten Arbeiten des Bandes.

Der letzte Beitrag zeigt, dass gesellschaftliche Kategorisierungen und Ausgrenzung bei weitem nicht mit der Epoche der Nationalstaaten überwunden wurden. Ebenfalls als kontrastreichen Vergleich untersucht Karen Caplan die Probleme des mexikanischen Liberalismus mit der indigenen Bevölkerung bezüglich Landvergabe und der Bürgerrechte in den Bundesstaaten Oaxaca und Yucatán im Verlauf des 19. Jahrhunderts.

Es ist das große Verdienst von „Imperial Subjects“, die beschriebenen Prozesse um Identität und Herrschaft anhand von ausgewählten mikrohistorischen Beispielen zu analysieren und darüber hinaus einen Eindruck von der Komplexität und Diversität des Themenbereichs im kolonialen Amerika über drei Jahrhunderte zu geben. Alle Beiträge zeichnen sich durch sorgfältige Recherche und profunde Kenntnis der Fachliteratur aus. Die bereits in der Einleitung dargestellten Forschungslinien werden im weiteren Verlauf von allen Autoren berücksichtigt, so dass gerade in der Auseinandersetzung mit der Theoriebildung ein inhaltlicher Faden entsteht. Der Band stellt somit nicht nur eine hervorragende Einführung dar, sondern geht durch die weiterführenden case studies in die Tiefe.

Anmerkungen:
1 Theory and Society 29 (2000) 1, S. 1-47.

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29.10.2010
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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