T. Fischer u.a. (Hg.): Migration in internationaler Perspektive

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Title
Migration in internationaler Perspektive.


Editor(s)
Fischer, Thomas; Gossel, Daniel
Series
Schriftenreihe des Zentralinstituts für Regionenforschung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 5
Published
München 2009: Allitera Verlag
Extent
385 S.
Price
€ 34,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Franka Bindernagel, Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin

Fischer und Gossel möchten mit ihrem Sammelband zu den aktuellen Migrationsdebatten beitragen und wählten dafür den eher unüblichen "Blick über den Tellerrand" in den atlantischen Raum. Historiker, Romanisten, Sozialwissenschaftler und Beamte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg eröffnen mit ihren Beiträgen historische und aktuelle Vergleichsperspektiven. Sie setzen sich mit Migrationsprozessen und gesellschaftlichen Veränderungen in Süd- und Nordamerika sowie in Europa auseinander. Dabei wird deutlich, dass es manch aufgeregte Diskussion in Deutschland zu relativieren gilt, denn Migrations- und Akkulturationsprozesse sind vielschichtig und langanhaltend. Ihre Ergebnisse hängen von vielfältigen gesellschaftlichen Bedingungen ab. Der Band nützt als Einführung für Studierende, aber auch als Informationsquelle und Vergleichshorizont für alle diejenigen, die sich mit Migration beschäftigen. Die Rezensentin hat ausgewählte Beiträge genauer betrachtet und die übrigen am Ende aufgelistet.

Marita Krauss macht den Auftakt im Abschnitt 2 des Buches, „Prozesse und Phänomene“. Ihr gelingt es in hervorragender Weise auf wenigen Seiten die vielschichtigen Dimensionen von Migrationsprozessen aufzuzeigen. Ihr Stil bleibt trotz der Komplexität der Materie angenehm lesbar. In ihrem Artikel „Migrationen – Akteure, Strukturen, Fragen“ skizziert sie zuerst ein allgemeines Panorama bevor sie im zweiten Teil spezifische Konstellationen anhand der bayerischen Landesgeschichte seit der Frühen Neuzeit durchleuchtet. Im ersten Teil weist sie auf gesellschaftliche Paradoxien sowie gewandelte Perspektiven hin: Obgleich Migrationen enorme Ausmaße angenommen haben, werden sie oft als Sonderfall angesehen. Als Normalfall wird weiterhin Sesshaftigkeit und Stabilität gesellschaftlicher Strukturen angenommen, weshalb gerade die deutsche Debatte um „Integration“ von Migranten problematisch ist. Krauss erläutert die aktuellen Fragen der Migrationsforschung. Sie weist auf bestehende Defizite hin, besonders bei der Untersuchung von Rückwanderung und Rücktransfer. Wie sehr Aufnahmegesellschaften von Migrationen profitieren, wird im landesgeschichtlichen Teil deutlich. Dabei gelingt es der Historikerin aus Augsburg, die verschiedenen Migrationsprozesse, die daraus entstehenden Verflechtungen, Kommunikationen, Entwicklungsschübe und auch Ängste anschaulich darzustellen. Sie nennt die wichtigste aktuelle Forschungsliteratur und rundet so ihre gelungene Einführung in die aktuelle Migrationsforschung ab.

In einem ausgesprochen informativen Beitrag gibt die Münsteraner Historikerin Heike Bungert einen Überblick über „Europäische Migration nach Nordamerika im 19. Jahrhundert“. In anschaulicher Weise arbeitet sie anfangs statistisches Material ein und macht so Makro- und Mikroentwicklungen konkret fassbar. Im nächsten Teil, genannt „Motivationen“, kann Bungert auf die Vielfalt der Migrationsstudien zurückgreifen, die für die USA vorliegen. Sie weist dabei auf ältere und neue Erklärungsansätze der Forschung hin und betont die Individualität von Wanderungsentscheidungen, die die Forschung in den letzten 20 Jahren herausarbeiten konnte. Dabei werden die Relevanz von familiären Netzwerken und Kommunikation deutlich. Bungert beschäftigt sich außerdem intensiv mit Frauen im Migrationsprozess – eine wichtige Dimension, die manchmal leider bis heute in Texten zur Migrationsgeschichte fehlt. Spannend sind die Erkenntnisse, die Bungert zur Ansiedlung in den USA zusammenfasst, denn sie zeigt die sozialen und kulturellen Wirkungen von Migration in den Urspungs- und aufnehmenden Gesellschaften auf. Sie kann dabei auf die differenzierten Ergebnisse der „Ethnic History“ zurückgreifen. Zum Schluss gibt Bungert einen Ausblick in die kanadische Migrationsgeschichte, für die leider nicht so viele Studien zur Verfügung stehen wie für die USA.

Im dritten Teil des Bandes, „Kontrolle und Steuerung“, setzt sich Rüdiger Zoller mit der Einwanderungspolitik Brasiliens im 19. und 20. Jahrhundert auseinander. „Förderung, Quoten, Assimilierung“ – das sind die Schlagworte, unter denen der Politologe die wechselnde Migrationspolitik Brasiliens zusammenfasst, die sich letztlich immer an den globalen Zeitgeist anpasste. In Phasen von Globalisierung und Deglobalisierung sowie infolge von rassistisch und antisemitisch motivierten Einstellungen filterte die politische Elite die Einwandererströme. Besonders in den 1930er und 40er Jahren übten Staat und Regierung einen enormen Assimilationsdruck auf Einwanderer aus, den gerade Deutsche in Zeiten der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs zu spüren bekamen. Zoller schlussfolgert, dass die brasilianischen Praktiken kein Vorbild für heutige Problemlösungen sein können. Zwar wurde weitgehende Assimilierung erreicht, die soziale Segregation sowie Benachteiligungen aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht und regionaler Herkunft aber nicht gelöst. Aufschlussreich sind Zollers Ausführungen zu deutschen und japanischen Immigranten, die aufgrund ihres hohen Bildungsniveaus rasch in der sozialen Hierarchie aufsteigen konnten. Bildung und Leistungswillen werden als Schlüsselkompetenzen beschrieben. Zwar stehen manche Textteile von Zollers Aufsatz etwas unverbunden nebeneinander, doch insgesamt entfaltet der Autor, der an der Universität Erlangen-Nürnberg arbeitet, einen guten Überblick zur brasilianischen Migrationspolitik.

Mit der „Migrationspolitik der Europäischen Union“ beschäftigt sich Petra Bendel, die die Frage stellt, ob es sich dabei um einen Aufbruch in eine moderne und angemessene Migrationspolitik handelt oder ob Migrationspolitik weiterhin blockiert wird. Bendel zeichnet das Bild einer EU-Kommission und eines EU-Parlamentes, die durchaus moderne migrationspolitische Ansätze „in der Schublade“ haben, aber immer wieder durch externe Ereignisse, politische Konjunkturen, durch nationale Interventionen und vor allem durch den Rat der Innen- und Justizminister blockiert werden. Öffentlich viel diskutiert werden die europäischen Abwehrmaßnahmen gegen unerwünschte und illegalisierte Einwanderung. Bendel hingegen nimmt sich Zeit, die Institutionen und Politiken zu durchleuchten, die sich mit der viel größeren legalen Migration beschäftigen, wozu jede Form der Wirtschaftsmigration, Familienzusammenführungen und Aufenthalte zu Studienzwecken gehören. Der Mehrwert des Aufsatzes liegt gerade in diesem Thema, denn die komplizierten Mechanismen der Entscheidungsfindung auf EU-Ebene sowie die verschiedenen Leitbilder und Maßnahmen der Migrationspolitik sind wenig bekannt. Die Privatdozentin aus Erlangen-Nürnberg betont, dass Migrationspolitik Querschnittspolitik ist und nicht - wie so oft - als Sicherheitspolitk betrachtet werden darf. Eine gemeinsame EU-Politik ist ihrer Meinung nach notwendig und wünschenswert, wenn auch noch in weiter Ferne liegend.

Im dritten Teil des Bandes geht es um „Integration und Identität“. Zuerst skizziert Matthias S. Fifka in einem Langzeitüberblick den Wandel in der Perzeption asiatischer Einwanderer in den USA. "Von der 'Yellow Peril' zur 'Model Minority'" fasst Fifka diesen Wandel, der sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute vollzog, zusammen. Fifka, Stellvertretender Direktor des Deutsch-Amerikanischen Instituts in Nürnberg, befasst sich mit der chinesischen, japanischen, koreanischen, philippinischen und indischen Einwanderung. Er arbeitet die Widersprüchlichkeit der US-amerikanischen Politik heraus. Einerseits wurde sie von rassistischen Vorstellungen geleitet, denn die Staatsbürgerschaft war seit 1790 ausschließlich "free white persons" vorbehalten, andererseits bemühten sich die USA immer wieder um billige Arbeitskräfte für Infrastrukturausbau und Plantagenarbeit. Mit Migration aus Asien wurden die USA auch durch ihren weltweiten Einsatz von Militärstreitkräften konfrontiert, wenn etwa Soldaten in Südkorea binationale Ehen eingingen. Die USA mussten infolge der Gesetze zur Familienzusammenführung die Einwanderung der Ehefrauen und deren Verwandter gestatten. Nach Jahrzehnten der Ablehnung wird heute ein großer Teil der asiatischen Einwanderer als "Model Minority" angesehen, weil sie fleißig, anpassungswillig und genügsam seien. Diese Haltung wirft ein Schlaglicht auf die aufnehmende Gesellschaft. Es gelingt Fifka trotz der Begrenztheit eines Aufsatzes, einen umfassenden und anregenden Überblick zur asiatischen Einwanderung in die USA zu schreiben.

Der Herausgeber Thomas Fischer, Professor für Geschichte Lateinamerikas in Eichstätt, knüpft an die einführenden Artikel von Krauss und Bungert an, indem er in die Tiefe geht und die soziale und wirtschaftliche Integration von Immigranten in Argentinien analysiert. Dabei konzentriert er sich auf spanische und italienische Migranten, die seit Ende des 19. Jahrhunderts einwanderten. Es liegen eine Reihe von teilweise sehr detaillierten Studien zu diesen in Argentinien dominierenden Migrantengruppen vor, deren Ergebnisse Fischer auswertet und verknüpft. Es zeigt sich, dass die wirtschaftlichen Tätigkeiten der Immigranten stark von ihren mitgebrachten Erfahrungen und von ihren Netzwerken in Argentinien abhingen. Auch Stereotype, mit denen sie in Argentinien beschrieben wurden, beeinflussten ihre wirtschaftliche Integration. Die soziale Integration übernahmen in hohem Maße Unterstützungs- und Geselligkeitsvereine der Migranten die mehrere Funktionen erfüllten, zu denen vor allem auch die Erleichterung der Akkulturation und Orientierung gehörten. Hier sei an die manchmal überängstliche deutsche Debatte erinnert, in der solche Vereine und Verbände der Migranten abgegrenzt und mit Feindbildern belegt werden. Ihre integrierende Wirkung wird übersehen. Am Ende schlussfolgert Fischer, dass die Inklusions- und Exklusionsmechanismen von Integration noch zu wenig untersucht wurden. Bisher haben Forscher zu wenig nach der Bereitschaft der einheimischen Bevölkerung bei der Integration gefragt und außerdem zu einseitig Migranten nach nationalen Gruppen eingeteilt und untersucht.

Der fünfte und letzte Abschnitt des Bandes vereinigt drei Aufsätze, die sich mit aktuellen Aspekten beschäftigen. So fragt der Mitherausgeber Daniel Gossel, wie es um "Großbritannien im internationalen Wettbewerb um hoch qualifizierte Arbeitskräfte steht. Gossel interessiert sich für die diesbezüglichen Diskurse und analysiert die "Brain Drain"-Debatte, die seit den 1960ern geführt wird. Gossel schlussfolgert, dass das Phänomen komplexer ist, als es durch Medien und Politiker vermittelt wird. Zwar erleidet Großbritannien eine hohe Abwanderung von Fachkräften und Wissenschaftlern, aber es setzt sich die Haltung durch, "die wachsende Mobilität der Hochqualifizierten im Zusammenhang mit der sich intensivierenden globalen Verflechtung zu sehen" (S. 345). Hier geht es um den internationalen Wettbewerb um Hochqualifizierte. Großbritannien kümmert sich deshalb besonders um die große Gruppe von ausländischen Studierenden an den Universitäten. Stefanie Wahl beschäftigt sich mit der Auswanderung aus Deutschland und zeichnet ein pessimistisches Bild. Sie warnt vor einem "Brain Drain", der Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit einschränken könnte. Wahl listet eine Reihe von strukturellen Veränderungen auf, die nötig wären, um dem "Brain Drain" zu begegnen. Da Daniel Gossel die Konjunkturen dieser "Brain Drain"-Debatte aufzeigte, entsteht bei Wahls Beitrag der Eindruck, dass die Debatte ihre Wirkung nicht verfehlt hat: Verschiedene gesellschaftliche Akteure sind (schon seit längerem) sensibilisiert worden bezüglich der Abwanderung und erheben Anspruch auf aktive politische Gestaltung der Migrationsbewegung.

Hans Dietrich von Löffelholz, Referatsleiter im Bundesamt Migration und Flüchtlinge in Nürnberg, beschäftigt sich mit der "Arbeitsmarktbeteiligung von Einwanderern im internationalen Vergleich". Er setzt sich mit der oft zitierten Vorstellung auseinander, die Arbeitsmärkte für Immigranten seien in Kontinentaleuropa eher geschlossen, in angelsächsischen Ländern hingegen eher offen. Dabei spielt Löffelholz auch auf die schon historisch zu nennenden Ängste an, Immigranten stellten eine kostengünstige und wenig anspruchsvolle Konkurrenz für einheimische Arbeitskräfte dar. Nach Auswertung verschiedener empirischer Daten weist Löffelholz die o.g. These von den unterschiedlichen Arbeitsmärkten zurück. Zwar wiesen sie strukturelle Unterschiede auf, zentral bliebe aber die persönliche Motivation der Immigranten, sich in der neuen Umgebung durchzusetzen und ihren Lebensstandard zu erhöhen. Dabei schränkt der Autor ein, dass es in regionaler, sektoraler und berufsspezifischer Hinsicht weiterhin "spürbare Defizite" (S. 366) in Deutschland gebe und so eine strukturelle Arbeitslosigkeit in bestimmten Migrantengruppen bestehe.

Weitere Beiträge in diesem Band behandeln die folgenden Themen:
Walther L. Bernecker, Die transatlantische Massenmigration von Europa nach Lateinamerika: Phasen und Erscheinungsformen
Günther Ammon, Einwanderungsland Frankreich
Kathrin Munzert, Migration und Integration in Großbritannien - Entwicklungen, Herausforderungen und Konzepte
Axel Kreienbrink, Migration über Jahrhunderte - Auswanderung und
Einwanderung in Spanien
Sina Flessel, Die "Nikkei" in Brasilien - Identität im Wandel
Anna Holtmannspötter, Die politische Diaspora im 21. Jahrhundert am Beispiel Spaniens und Großbritanniens

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12.02.2010
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