S. Rößner: Die Geschichte Europas schreiben

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Title
Die Geschichte Europas schreiben. Europäische Historiker und ihr Europabild im 20. Jahrhundert


Author(s)
Rößner, Susan
Series
Eigene und fremde Welten 16
Published
Frankfurt 2009: Campus Verlag
Extent
386 S.
Price
€ 43,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Rolf Petri, Università Ca' Foscari

Die Autorin untersucht die Darstellung europäischer Geschichte durch deutsche, britische und niederländische Historiker in den Jahren 1918-30, 1945-60 und 1989-2000. Ihre Quellen sind Europa- und Weltgeschichten, daneben Monographien und Aufsätze. Zunächst interessiert sie, in welchem Maß bei den untersuchten Autoren ein „Europabewusstsein“ vorhanden war, womit sie die Akzeptanz der Zugehörigkeit zu „einer nicht nur geographischen, sondern auch kulturellen, gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Einheit oder Einheitlichkeit“ (29) des europäischen Raumes meint. Dann untersucht sie das „europäische Selbstverständnis“ der Historiker, d.h. ihre Zuschreibung von Eigenschaften zu Europa und fragt sich, wie diese gegebenenfalls national gebrochen wurden und ob sie im Laufe der Zeit konvergierten oder divergierten. Es geht ihr dabei um „eine Beschreibung der national- und epochenspezifischen Konzeptualisierungen Europas“ und ausdrücklich nicht um eine „Darstellung der Begriffsgeschichte von Europa“ (S. 16).

Die vergleichende Textanalyse zu den nationalen Traditionen der Europageschichte und der jeweiligen Einschreibung der Nationalgeschichte in die europäische, schließlich der Suche des Eigenen im Spiegel des Anderen, basiert auf den Werken bedeutender Autoren wie Barraclough, Beloff, Brugmans, Cartellieri, Dawson, Delbrück, Knapton, Mazower, Meinecke, Mommsen, Rachel, Ritter, Spengler, Toynbee, Wells und anderen. Nationale Europavisionen und ihre kulturellen und geschichtsphilosophischen Grundlagen werden dabei genauso herausgearbeitet wie die Ein- und Ausgrenzung nach Osten, das europäische Krisenbewusstsein, das als „goldenes Zeitalter“ Europas nur allmählich blasser werdende Mittelalter, die Unterschiede zwischen protestantischen und katholischen Strömungen und vieles andere, was hier nicht im Einzelnen auseinandergesetzt werden kann.

Im Ergebnis stellt die Autorin fest, dass sich die Zuschreibung von Eigenschaften zu Europa durch die Historiker im Laufe der Zeit anglich und ihr „Europabewusstsein“ während des 20. Jahrhundert wuchs. Zwar gab es mindestens so viele Europakonzepte wie nationale Geschichtstraditionen, doch basierten diese auf historischen Narrativen, die sich „erstaunlich“ ähnelten und weiter konvergierten; so wurden die gegen Ende des 19. Jahrhundert von nationalen und konfessionellen Parteiungen stark betonten Unterschiede zwischen Kultur und Zivilisation, Abendland und Westen usw. allmählich abgebaut. Rößler analysiert die wichtigsten Elemente der Standarderzählung über die universale Mission der vernunftbegabten und freiheitsliebenden Europäer und ihre Etappen (griechisch-römische Antike und Christentum, Mittelalter, Reformation und Renaissance, Aufklärung und Französische Revolution, Moderne und Industrialisierung, Weltkriege und Blockkonfrontation) als „Teile eines Mythos, der für die Gemeinschaftsbildung, die Abgrenzung der Gemeinschaft nach außen und ihre Sinnstiftung nach innen wesentlich ist“ (S. 213). Gegen Ende des 20. Jahrhundert werden Reformation, Aufklärung und Säkularisierung nicht mehr als der Anfang vom Untergang des Abendlandes angesehen, sondern eher zusammen mit den „christlichen Wurzeln“ zu einem neuen Europaverständnis fusioniert. Unter Fachhistorikern bestehe zudem heute weitgehender Konsens darüber, „die europäische Epocheneinteilung als Konstrukt zu verstehen“ (S. 215). Doch so sehr sich auch die jüngere world history methodisch besser durchdachte Erkenntnisziele setze als die Universalgeschichte früherer Jahre, falle es europäischen Historikern aus kulturellen, sprachlichen und forschungspraktischen Gründen noch immer nicht leicht, den als Erkenntnisgrenze erkannten Eurozentrismus zu überwinden.

Es ist der Autorin zuzustimmen, wenn sie die Ähnlichkeit der Konstruktionsprinzipien nationaler und europäischer Geschichtsnarrative betont. Allerdings, so Rößner weiter, fehlten den früheren Europahistorikern die Anforderungen eines politischen Gedächtnisses, da Staatlichkeit ein allein nationales Prärogativ blieb. Dies ändere sich nun allmählich unter dem zunehmenden Gewicht der europäischen Institutionen. Auf der einen Seite fördere deren prekäre Selbstgewissheit weiter den Bedarf an Geschichtsmythen, auf der anderen entstehe ein politischer Bedarf, über das früher nur als Kulturgemeinschaft gedachte Europa hinauszugehen.

Die Autorin zählt zum Desinteresse der Historiker an der politischen Dimension die „fast gänzlich fehlende Thematisierung der wirtschaftlichen Nachkriegsprobleme“ (S. 338). Zumindest was die jüngere Geschichtsschreibung betrifft, scheint sie dabei einige einschlägige Arbeiten zu übersehen. Der britische Wirtschaftshistoriker Alan Milward, etwa, hatte in den 1980er Jahren auf Grundlage damals neuer Quellen den Geschichtsmythos der Europäischen Gemeinschaft einer umfassenden Kritik unterzogen. Davon betroffen war insbesondere die aus der europäischen Standardzählung abgeleitete Behauptung, das mit der EGKS geborene Nachkriegseuropa stelle eine werte- und ideengeleitete Überwindung des nationalen Egoismus dar. Vielmehr habe Europa den Nationalstaat gerettet, hielt Milward dem entgegen. Konnten seine Thesen nicht in Betracht gezogen werden, weil sie in anderen als den Untersuchungsjahren erschienen? Eine derart rigide Abgrenzung wäre im Ergebnis problematisch.

Insgesamt hätte man sich eine noch kritischere Haltung gegenüber dem „standardisierten Weg der Erzählung“ (S. 336) europäischer Geschichte im 20. Jahrhundert gewünscht, was mit einem weiter ausholenden Blick zurück auf Entstehung und Wandel der „europäischen Idee“, dem sich die Autorin erklärtermaßen versagt, einfacher zu bewerkstelligen gewesen wäre. Zum einen hätte die Auseinandersetzung mit der europäischen Begriffsgeschichte und ihrer Theorie – etwa anhand der von Delanty herausgearbeiteten dialektischen Struktur der Diskurse über Nation und Europa – das Grundverständnis kommunikativer Funktionsmechanismen verbessern können. Die Autorin bemüht sich sehr um logisch eindeutige Begriffsbestimmung, die jedoch politische (religiöse usw.) Diskursformen nur unzureichend abbildet. Sogenannte „Janusköpfigkeit“ ist nämlich eine elementare Bedingung ihrer kommunikativen Macht. So lassen sich in vielen Schriften über Nation und Europa abrupte, oft nur durch ein paar Zeilen getrennte Sprünge von „Europa, das sind wir“ nach „Europa, das sind die anderen“ nachweisen. Hier etwas nach dem Entweder-Oder-Prinzip messen zu wollen, führt leicht in die Irre.

Zum anderen erstaunt die Einheitlichkeit der Erzählung zu Ursprüngen und Sinn der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert weit weniger, wenn mitbedacht wird, dass sich deren Grundzüge bereits in den Werken von Gibbon, Herder, Michelet usw. auffinden lassen. Noch heute schöpft das „politische Europa“ am liebsten aus diesen der Neuzeit entsprungenen Quellen europäischer Mythologie und Ideologie. Selbst bei den 50-Jahrfeiern der Römischen Verträge von 2007 spielte die Integrationsgeschichte der EWG nur am Rand eine Rolle. Aus verschiedenen Gründen ist den Brüsseler Institutionen trotz ihrer „zunehmenden Verstaatlichung“ und der damit einhergehenden „zunehmenden Konstituierung Europas als Erinnerungsgemeinschaft“ (S. 343) offenbar wenig an der eigenen Geschichte gelegen. Zumindest als Legitimationswissenschaft erscheint sie ihnen als untauglich.

Daher klingt der Ausblick der Autorin auf die künftig wachsende Rolle der Historiker als „Baumeister Europas“ etwas optimistisch. Wenn man wie die Autorin möchte, dass Historiker Verantwortung für eine europäische Geschichtserzählung übernehmen, die dazu beiträgt, die EU für das 21. Jahrhundert tauglich zu machen, dann sollte man die bisher ungebrochene Hegemonie der „großen Erzählung“ noch stärker hinterfragen, als dies im Buch ansatzweise geschieht. So hat sich selbst nach 1989 kaum herumgesprochen, dass das Römische Reich erst 1453 nach über tausend Jahren christlicher Staatsreligion endete. Diese andere, genuin europäische Sicht westeuropäischen Deutungen gegenüberzustellen wäre zum Beispiel eine lohnende Aufgabe für um inklusive Geschichtserzählungen bemühte Historiker. Noch dringender geboten für die Welt des 21. Jahhunderts scheint eine Aufarbeitung nicht nur der „Untaten“ des Kolonialismus, sondern auch der dahinter liegenden Mission fortschreitender Menschheitsbeglückung, die bis heute das Rückgrat europäischer Selbstgewissheit und Selbstgerechtigkeit darstellt.

Rößner hat die Gegenstände und Quellen ihrer Untersuchung präzise genug abgegrenzt, um gegenüber derartigen Fragen nicht in die Pflicht genommen werden zu können. Ob sie sich nun gleichwohl aufdrängen oder nicht, das Vorgehen der Autorin bleibt legitim. Wer sich mit der Theorie und Geschichte der europäischen Integration befasst, dem wird im Buch manches fehlen. Wer die Entstehung und Entwicklung der „europäischen Idee“ seit dem 18. Jahrhundert kennt, den wiederum werden die Ergebnisse wenig überraschen. Doch ist das komparative Herangehen an die verschiedenen Epochen und nationalen Deutungsmuster im Einzelnen recht ertragreich, auch wenn das hier aus Platzgründen nicht gebührend gewürdigt werden konnte. Das Werk ist vor allem ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der deutschen, britischen und niederländischen Geschichtsschreibung nach den beiden großen Kriegen. Divergierende und konvergierende Weltsichten im Prisma von „Europa“, nationale wissenschaftliche Traditionen und professionelle Produktionsbedingungen werden einer gründlichen Analyse unterzogen. Die Konturen bedeutender Autoren und Texte werden so im Gegenlicht des Vergleichs schärfer herausgearbeitet, als das bisher der Fall war. Künftige Arbeiten zur Geschichte der Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur der drei Länder werden daher zumindest im deutschsprachigen Raum an diesem Band nicht vorbeikommen.

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16.12.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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