R. A. Butlin: Geographies of Empire

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Title
Geographies of Empire. European Empires and Colonies c.1880–1960,


Author(s)
Butlin, Robin A.
Series
Cambridge Studies in Historical Geography 42
Published
Extent
673 S.
Price
€ 87,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Benedikt Stuchtey, Deutsches Historisches Institut London

Historiographiegeschichtlich gesehen befindet sich Robin Butlin mit seinem neuesten Buch in ausgezeichneter, wenn auch überschaubarer Gesellschaft. Zwischen 1888 und 1901 hatte der Geograph und Kenner des Römischen Weltreichs, Charles Prestwood Lucas, eine Studie vorgelegt, die unter dem Titel "A Historical Geography of the British Colonies" unter seinen Zeitgenossen viel Eindruck machte, weil hier erstmals in größerem Umfang der Versuch unternommen worden war, gleichsam nach französischem Vorbild die räumliche Ausdehnung eines imperialen Verbandes in ihrer historischen Dimension zu erfassen. Diese Vorgehensweise ist seitdem selbstverständlich verfeinert worden, aber nur in begrenztem Maße, und Butlin weiß sich in den Fußstapfen seines bedeutenden Vorgängers, dessen Werk er eingangs anführt, um, wie es dieser schon zu seiner Zeit tat, Orientierung in einem nahezu unermesslichen Thema anzubieten: wer die Dimension der imperialen Expansion verstehen will, solle sich ihrer Kräfte wie zum Beispiel wissenschaftlicher Erforschung, Kartierung, Transportwesen, Urbanisierung und wirtschaftlicher Erschließung des Landes klar werden. Kenntnisse in der Geographie waren für die imperialen Kräfte und deren Stabilisierung von unschätzbarem Wert. Doch auch für Widerstand bis hin zur Dekolonisation spielten sie eine zentrale Rolle, wie Butlin überzeugend zu zeigen weiß. Indem er seine Fragestellung europäisch erweitert und zeitlich vom Hochimperialismus bis in die 1960er-Jahre reichen lässt, schenkt er in enzyklopädischer Belesenheit seinem Thema die Bedeutung, die es bisher vor allem in Sammelbänden, aber kaum in Monografien erhalten hat. Die Voraussetzung dazu besitzt der emeritierte Geographieprofessor von der Universität Leeds vorzüglich, denn wenige haben so substantiell in Forschung und Lehre zum Spannungsfeld von Geographie und Imperialismus beigetragen wie er. Dabei stellt er sich in diesem Buch der Herausforderung, den verschiedenen europäischen metropolitanen Perspektiven ebenso gerecht zu werden wie den peripheren in den Kolonien. Die Transferprozesse zwischen Europa und seinen kolonialen Besitzungen zeichnet er kenntnisreich und mit langem Atem nach, ohne dabei Details zu übergehen. Der Gegenstand des Buches bringt es freilich mit sich, dass das Britische Empire naturgemäß den meisten Platz einnimmt und auch die Bibliografie allein auf englischsprachige Titel begrenzt bleibt. Hier sind seinem transnationalen Forschungsanspruch Grenzen gesetzt, was sich auch darin zeigt, dass Butlins Fallbeispiele schwerpunktmäßig aus der britischen Geschichte und nur selektiv aus der Geschichte anderer europäischer Kolonialmächte kommen.

Nun ließe sich argumentieren, dass diese Sichtweise ohne Weiteres durch die Konkurrenzlosigkeit des Britischen Empires gerechtfertigt ist. Konkurrenzlos war es, indem es ähnlich wie das portugiesische und das holländische ein genuines Kolonialreich darstellte, demzufolge Expansions- und Nationalgeschichte eng aufeinander bezogen waren und dadurch die Zivilisierungsmission neben ihrer politischen und kulturellen eben auch eine geographische Qualität besaß. Aber es war ebenfalls in die gesamte europäische Kolonialgeschichte integriert, nicht von ihr getrennt oder unabhängig, sondern durch personelle und institutionelle Verflechtungen ein maßgeblicher Motor der europäischen Expansion. Das Gleiche trifft auf die Kolonien in Afrika und Asien selbst zu. Hier trafen neue und alte Kolonialreiche aufeinander, und während die alten länger Bestand hatten, gingen die neuen oft schon nach wenigen Jahrzehnten wieder verloren. In der Beziehung zwischen Metropole und Kolonie trat die Vielfalt der verschiedenen europäischen Kolonialprojekte offen zutage. In der Verschiedenartigkeit der Ergebnisse der Zivilisierungsmissionen zeigte sich, wie variabel die Verhandlungsmöglichkeiten zwischen den Menschen in den Kolonien einerseits und den europäischen Kolonialisten andererseits waren. Hinter der Bandbreite von Modifikationsangeboten lag Butlin zufolge das Geheimnis verborgen, warum die Geografie in Theorie und Praxis eine so große Rolle für den Imperialismus spielte. In ihrer institutionalisierten Form, zum Beispiel der Royal Geographical Society, nahm sie als wissenschaftliche Einrichtung zwar keinen unmittelbaren Einfluss auf politische Entscheidungen. Aber sie förderte die Produktion und Verbreitung von herrschaftsrelevantem Wissen, wovon seinerseits der Kolonialhandel profitierte. Großräumige Projekte von globalem Zuschnitt sowie kleinere mit regionaler oder lokaler Bedeutung bewirkten, dass, um nur ein Beispiel zu nennen, Bevölkerungsbewegungen in kolonialen Räumen ebenso wie individuelle Gebäude, Straßen oder Monumente in ihrer symbolischen Form imperiale Ideologien widerspiegelten. Dabei war der Einsatz geographischer Mittel selten unumstritten, sondern führte im Gegenteil häufig zu Deutungskonflikten und zu Debatten über die Ethik wissenschaftlicher Erforschung. Wie leicht Grenzen zum Sensationsbedürfnis einer breiten Öffentlichkeit überschritten werden konnten, zeigte die spektakuläre Begegnung zwischen Stanley und Livingstone.

Butlin sieht in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Verbindung zur Umweltgeschichte. Die dynamische Veränderung des Ökosystems, Erosion, Trockenheit und die Versuche, Wildbestände zu erhalten: so verschieden diese Aspekte sind, so deuten sie doch gemeinsam auf die Herausforderungen, denen sich historische Atlanten stellen. Migrationen, Hungerkatastrophen, Krankheiten und Epidemien – sie ließen sich besser verstehen, wenn sie historisch kartographiert würden und als Konsequenz die globale Vernetzung der Folgen des europäischen Imperialismus illustrierten. Vielfach kann Robin Butlins ambitiöses Buch diese Vernetzungen nur andeuten, weil die europäischen Imperialismen, mit denen er arbeitet, von so unterschiedlichen Voraussetzungen ausgegangen sind und zu so unterschiedlichen Ergebnissen bis hin zu Formen der Dekolonisation führten. Deutschland verlor seine überseeischen Besitzungen in den europäischen Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, Frankreichs Algerientrauma ist bis heute nicht vollständig erforscht, und wenn die Briten sich aus ihren Kolonien zurückzogen, hinterließen sie oft Teilung: ob in Irland, Zypern, Palästina oder Indien und Pakistan. Deshalb ist das Buch von Butlin so anregend. Weil es zu mehr Detailforschung aufruft und zu mehr Interdisziplinarität zwischen Historikern, Kulturwissenschaftlern, Geographen, Anthropologen und Ethnologen.

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Published on
14.01.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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