I. Hiroyuki: Medizin und Kolonialgesellschaft

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Title
Medizin und Kolonialgesellschaft. Die Bekämpfung der Schlafkrankheit in den deutschen "Schutzgebieten" vor dem Ersten Weltkrieg


Author(s)
Isobe, Hiroyuki
Series
Periplus Studien
Published
Münster 2009: LIT Verlag
Extent
299 S.
Price
€ 34,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Manuela Bauche, Institut für Afrikanistik, Universität Leipzig

Was für Europa Pest und Cholera sind, sind für das koloniale Afrika Malaria und Schlafkrankheit, zwei Krankheiten, die nicht nur Mediziner/innen beschäftigen, sondern auch die Aufmerksamkeit von Historiker/innen auf sich gezogen haben. Das seit den 1990er-Jahren nicht abreißende geschichtswissenschaftliche Interesse an der Schlafkrankheit hat nun Hiroyuki Isobes Studie zur Bekämpfung dieser Krankheit in den deutschen Kolonien hervorgebracht.

Dass die Schlafkrankheit von sogenannten Trypanosomen verursacht wird, die durch den Biss der im tropischen Afrika vorkommenden Tsetse-Fliege übertragen werden, gilt heute als gesichertes Wissen. Um 1900 freilich waren europäische Mediziner damit beschäftigt, diese Theorie zu prüfen sowie eine wirksame Therapie gegen die Krankheit zu entwickeln. Zur vielbeachteten Krankheit, zum „colonial disease“1, wie Maryinez Lyons es formulierte, stieg sie auf, als ihr im britischen Uganda mehrere 100.000 Menschen zum Opfer fielen – ein Ereignis, das nicht nur die britischen Behörden alarmierte, sondern auch die Regierungen anderer Kolonien im tropischen Afrika fürchten ließ, dass sich in ihren Besitzungen ähnliche Szenarien abspielen könnten und die Zahl der ohnehin schwer zu rekrutierenden Arbeitskräfte damit drastisch reduziert würde. Die Vorsorge gegen und Bekämpfung der Schlafkrankheit avancierte in der Folge zu einem wichtigen Ziel kolonialer Gesundheitspolitiken in Afrika zwischen 1900 und 1914.

Der Bedeutung der Schlafkrankheitsbekämpfung für die britischen Kolonien2, dem belgischen Kongo3 und für das französisch beherrschte West- und Zentralafrika4 tragen einige gut recherchierte Studien Rechnung.5 Wer sich für die entsprechenden Verhältnisse in den deutschen Kolonien interessierte, griff bisher zu Wolfgang U. Eckarts imposantem Werk „Medizin und Kolonialimperialismus“.6 In seinem Anspruch, einen Überblick über die gesamte Gesundheitspolitik in allen deutschen Kolonien zu liefern, kann dieses allerdings nicht mehr als einen, freilich höchst wertvollen, Abriss der gegen die Schlafkrankheit getroffenen Maßnahmen liefern. Eckarts Darstellungen zur Schlafkrankheit beruhen außerdem fast ausschließlich auf veröffentlichten Quellen und lassen das umfangreiche Aktenmaterial zum Thema unberücksichtigt. Dieses Material haben sich bisher nur einige kürzere und regional wie in der Fragestellung enger angelegte Studien vorgenommen.7 Eine Untersuchung, die auf der Grundlage des relevanten Aktenmaterials nicht nur eine umfassende Übersicht über die Entwicklungen liefert, sondern diese in die Kontexte der jeweiligen Kolonialherrschaften einordnet, fehlte bisher.

Diese Lücke verspricht Hiroyuki Isobe zu schließen: „Medizin und Kolonialgesellschaft. Die Bekämpfung der Schlafkrankheit in den deutschen ‚Schutzgebieten’ vor dem Ersten Weltkrieg“ heißt die Studie, die er 2007 als Dissertation am Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz eingereicht und nun im LIT-Verlag veröffentlicht hat. Isobe will, so erläutert er in der Einleitung, sich von einer engen medizinhistorischen Perspektive absetzen, um stattdessen eine dezidiert kolonialhistorische einzunehmen: Was ihn interessiert, sind die Zusammenhänge zwischen Gesundheitspolitik und Kolonialherrschaft. Die Schlafkrankheitsbekämpfung als „kolonialpolitisches Projekt“ zu betrachten – das ist sein begrüßenswertes Anliegen. Zugleich legt er seine Untersuchung vergleichend an: Er will die Unterschiede zwischen den Schlafkrankheitspolitiken in den von der Krankheit betroffenen deutschen Kolonien Deutsch-Ostafrika, Togo und Kamerun herausarbeiten, Unterschiede, die sich seiner Meinung nach zumindest zum Teil aus den Spezifika der jeweiligen Kolonien heraus erklären lassen. Als Grundlage für seine Untersuchung dient ihm vor allem die Korrespondenz, die zwischen dem Reichskolonialamt und den Kolonien über die Organisation der Schlafkrankheitsbekämpfung ausgetauscht wurde und die im Bundesarchiv in Berlin überliefert ist.

Was Isobe vorlegt, ist eine detailreiche Studie, deren klare Gliederung in sechs Kapiteln und deren Zwischenüberschriften eine leichte Orientierung erlauben. In einem ersten Abschnitt werden das Erscheinungsbild der Krankheit sowie die – gescheiterten – Bemühungen zu internationalen Kooperationen in ihrer Bekämpfung umrissen. Im Anschluss wendet sich Isobe der deutschen Auseinandersetzung mit der Krankheit zu – dies zunächst, indem er ausführlich auf die Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit eingeht, die 1906 von der Reichsregierung ins britische und deutsche Ostafrika entsandt und vom prominenten Mediziner Robert Koch geleitet wurde. Wichtig ist deren Besprechung, so Isobe, weil die Expedition für die spätere Einrichtung von Programmen zur Schlafkrankheitsbekämpfung nicht nur in Deutsch-Ostafrika, sondern auch in Kamerun und Togo wegweisend war. Denn es war Koch, der im Anschluss an die Expedition Grundsätze für die Bekämpfung und Therapie der Krankheit formulierte: dass der Verkehr zwischen „verseuchten“ und „unverseuchten“ Gebieten kontrolliert werden müsse; dass zur Bekämpfung der Tsetse-Fliegen Gebiete abgeholzt werden sollten; schließlich, dass Schlafkranke in eigens dafür errichteten Lagern interniert und mit dem Medikament „Atoxyl“ behandelt werden sollten. Auch die Schwierigkeiten, mit denen die Kochsche Expedition sich konfrontiert sah, seien symptomatisch für die Probleme, die später auf die Programme zur Schlafkrankheitsbekämpfung zukamen.

In den sich anschließenden drei Kernkapiteln der Arbeit wird dies illustriert. Sie befassen sich nacheinander mit den gesundheitspolitischen Maßnahmen in den von Schlafkrankheit betroffenen Kolonien Deutsch-Ostafrika, Togo und Kamerun. Für Ostafrika vollzieht Isobe die Errichtung der insgesamt sechs Schlafkrankenlager nach, in denen Ärzte Kranke wohl gemerkt nicht nur mit „Atoxyl“ behandelten, sondern an ihnen auch allerlei andere Mittel erprobten, die unter anderem von Paul Ehrlich in Frankfurt am Main entwickelt und geliefert wurden. Diese Praxis scheiterte nicht nur am Ziel, dauerhafte Heilungen zu erzeugen, sondern führte auch zu zahlreichen tödlich endenden Vergiftungen unter den Internierten. Isobe legt Wert darauf, zu betonen, wie abhängig deutsche Ärzte von Einheimischen waren und wie begrenzt ihre Handlungsfähigkeit war: Bei der Suche nach Schlafkranken waren sie auf sogenannte „Drüsenfühler“ angewiesen, auf Afrikaner, die Kranke ausfindig machten, indem sie verdächtigte Personen auf Schwellungen der Halsdrüsen hin abtasteten, die als Symptom einer Schlafkrankheitsinfektion galten. Dass Kranke verweigerten, sich internieren zu lassen oder die Lager vor Anschluss der Behandlung verließen, zwang die Ärzte außerdem dazu, ihr Therapie- und Bekämpfungskonzept anzupassen, nämlich zunehmend auf ambulante Behandlungen zu setzen sowie auf die Bekämpfung der Tsetse-Fliegen und die Kontrolle des Verkehrs. Auch diese Maßnahmen allerdings scheiterten letztendlich am Personalmangel in der Kolonie.

Dieses Muster aus ambitioniertem Plan und Scheitern an den Realitäten der Kolonie wiederholt sich in Isobes Ausführungen zu Togo und Kamerun, auch wenn er einige institutionelle und zeitliche Unterschiede herausarbeitet: So wurde die Praxis der Internierung in Togo nie grundlegend in Frage gestellt, sondern blieb in dieser Kolonie bis zum Schluss Kernstück der Schlafkrankheitsbekämpfung. In Kamerun wiederum wurde eine Schlafkrankheitsbekämpfung erst in den 1910er-Jahren eingerichtet und damit mit auffallendem zeitlichem Abstand zu Togo und Ostafrika, weil die Kontrolle der Kolonialverwaltung über die von der Krankheit betroffenen Gebiete schwach war. Interessanterweise waren hier neben den staatlichen Stellen auch Firmen an der Finanzierung der medizinischen Maßnahmen beteiligt. Auch in seinem letzten Kapitel arbeitet Isobe ausgehend von den Unterschieden in der Art und Weise, wie in den Kolonien Statistik über die Krankenbewegung in den Lagern geführt wurde, regional spezifische Interessen der Ärzte heraus.

Trotz des Verweises auf solche lokale Besonderheiten – bei der Lektüre fallen vor allem die Gemeinsamkeiten zwischen den drei Kolonialgebieten auf. Angesichts dessen erscheint die vergleichende Perspektive der Arbeit nur begrenzt ertragreich. An vielen Stellen hätte es sich angeboten, die regionale Gliederung zugunsten einer thematischen aufzubrechen, auch weil einige Aspekte, die Isobe anspricht, eine eingehendere Besprechung wert gewesen wären. Eine solche Analyse hätte zugleich geholfen, Isobes Anspruch auf Einbindung der medizinischen Maßnahmen in den Kontext der Kolonialherrschaft stärker einzulösen. Die Ausführungen zu den Medikamententests an Menschen etwa gehen in der Arbeit über den Kontext der Lager nicht hinaus – dabei drängt sich ihre Einbindung in den Kontext der auf Rassismus basierenden Organisation des kolonialen Staats auf. Auch bei der Beschreibung der Versuche, den Verkehr medizinisch zu überwachen, unter anderem durch das Ausstellen von „Gesundheitspässen“, hätte sich angeboten, eine Verbindung zu kolonialen Politiken zur Kontrolle von Mobilität, insbesondere von Grenzverkehr herzustellen.

Ohne solche Ausführungen aber muss Isobes Schlussbemerkung auf die Feststellung beschränkt bleiben, dass die Schlafkrankheitsbekämpfung durch die finanziellen und politischen Bedingungen der jeweiligen Kolonien sowie durch lokalen Widerstand geprägt wurde – ein recht vages Ergebnis. Auch wenn er wiederholt, dass eine solche Feststellung nur durch das Einnehmen einer kolonialhistorischen – im Unterschied zu einer medizinhistorischen – Perspektive möglich sei: Eben diese Perspektive hätte man sich in ausgebauterer Form gewünscht. Isobes Arbeit wird deshalb allgemein an Kolonialgeschichte Interessierten zu eng am Untersuchungsgegenstand „Schlafkrankheit“ angelegt sein. Für diejenigen aber, die speziell zur Geschichte der Medizin und Gesundheitspolitik in den deutschen Kolonien arbeiten, bietet die Studie eine umfassende, detaillierte und wertvolle Rekonstruktion des neben der Malariabekämpfung ambitioniertesten Projekts kolonialdeutscher Gesundheitspolitik.

Anmerkungen:
1 Maryinez Lyons, The Colonial Disease. A Social History of Sleeping Sickness in Northern Zaire, 1900-1940, Cambridge 1992.
2 Kirk Arden Hoppe, Lords of the Fly. Sleeping Sickness Control in British East Africa, 1900-1960, London 2003; Luise White, Tsetse Visions. Narratives of Blood and Bugs in Colonial Northern Rhodesia, 1931-9, in: Journal of African History 36 (1995), S. 219-45.
3 Maryinez Lyons, The Colonial Disease.
4 Jean-Paul Bado, Médecine coloniale et grandes endémies en Afrique. 1900-1960. Lèpre, trypanosomiase humaine et onchocercose, Paris 1996; Rita Headrick, Colonialism, Health and Illness in French Equatorial Africa. 1885-1935, hrsg. von Daniel R. Headrick, Atlanta 1994.
5 Zu erwähnen ist außerdem Michael Worboys’ Studie, die deutsche, britische und belgische Maßnahmen miteinander vergleicht: The Comparative History of Sleeping Sickness in East and Central Africa, 1900-1914, in: History of Science 32 (1994), S. 89-102.
6 Wolfgang U. Eckart, Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884-1945, Paderborn 1997.
7 Manuela Bauche, Trypanosomen und Tinbeef. Medizinisches Wissen um Schlafkrankheit zwischen Kamerun und Deutschland, 1910-1914, in: Marc Seifert u.a. (Hrsg.), Beiträge zur 1. Kölner Afrikawissenschaftlichen Nachwuchstagung (KANT I), Köln 2007, <http://www.uni-koeln.de/phil-fak/afrikanistik/kant/data/BM1_kant1.pdf> (30.4.2010); Ann Beck, Medicine and Society in Tanganyika 1890-1930. A Historical Inquiry, Philadelphia 1977, insb. S. 17-22; Deborah J. Neill, Paul Ehrlich’s Colonial Connections. Scientific Networks and Sleeping Sickness Drug Therapy Research, 1900–1914, in: Social History of Medicine 22 (2009), S. 61–77.

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22.10.2010
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