V. Nies: "Apaisement" in Asien

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Title
"Apaisement" in Asien. Frankreich und der Fernostkonflikt 1937-1940


Author(s)
Nies, Volker
Series
Pariser Historische Studien 93
Published
München 2009: Oldenbourg Verlag
Extent
580 S.
Price
€ 68,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Marc Frey, School of Humanities and Social Sciences, Jacobs University Bremen

Eine deutsche Dissertation zu einem Thema der internationalen Beziehungen in Ostasien und Südostasien ist selten. Umso mehr freut es den Rezensenten, die hier angezeigte Arbeit vorzustellen. Volker Nies geht in seiner voluminösen Darstellung der französischen Indochina- und Ostasienpolitik in der Zwischenkriegszeit der Frage nach, wie die französische Politik auf die Expansionspolitik Japans in Ostasien reagierte. Betrachteten Kolonialverwaltung in Indochina und Entscheidungsträger in Paris den Krieg Japans in China als eine Bedrohung? Fürchteten sie um den Fortbestand des Kolonialreiches in Indochina? Und wie versuchten sie, Frankreichs Kolonialreich in Südostasien zu sichern? Auf der Suche nach Antworten sichtete Nies umfangreiche Archivbestände in Frankreich, den Vereinigten Staaten und in Genf (Völkerbund), und er arbeitete sich in einen weitverzweigten Literaturkorpus ein, der zahllose Akteneditionen, Memoiren und Darstellungen umfasst.

Die Hauptthese, um die die Argumentation kreist, lautet: „Paris besaß nur extrem geringe Handlungsspielräume in Asien“ (S. 529). Apaisement bedeutete, zwischen den verschiedenen Akteuren zu lavieren. Einerseits gingen Paris und Hanoi Konflikten mit Japan aus dem Weg, andererseits galt es gegenüber Großbritannien und den Vereinigten Staaten, die Aggression Japans in China nicht einfach hinzunehmen. Für die französische Diplomatie bedeutete dies, mit viel Finesse, Rhetorik und Winkelzügen französische Interessen so gut wie möglich zu vertreten. Denn es ging nicht nur um Indochina und um die Behauptung eines Kolonialreiches, mit dessen Hilfe Frankreich zu einem nicht geringen Anteil seine Rolle als Weltmacht definierte. Die französische Politik musste auch gewährleisten, dass die im neunzehnten Jahrhundert erworbenen und während der 1930er-Jahre hartnäckig verteidigten Privilegien und Einflusszonen in China erhalten blieben. Tatsächlich konnte Frankreich nach der japanischen Besetzung Chinas seinen Einfluss in China sogar steigern. In Zusammenarbeit mit Japan, so das Kalkül der Entscheidungsträger in Paris und Hanoi, konnte schließlich auch der Nationalismus eingedämmt werden, der die französische Herrschaft in Vietnam bzw. den Erhalt der Einflusszonen in China herausforderte. Frankreich fuhr mit dieser Politik der unausgesprochenen Kollaboration mit dem Aggressor zunächst nicht schlecht: während sich Japan seit Ende der 1930er-Jahre auf Konfrontationskurs zu den Vereinigten Staaten befand, sah es keinen Grund, Frankreichs Ansprüche in China und Indochina in Frage zu stellen oder in Frankreich eine Bedrohung zu sehen.

Um diese grundsätzlichen Überlegungen herum gruppiert Volker Nies eine dichte Beschreibung verschiedenster Aspekte internationaler Beziehungen: die politischen Strategien und Wahrnehmungen staatlicher Akteure; militärstrategische Überlegungen; die Rolle der französischen Öffentlichkeit; und Wirtschaftsbeziehungen und Interessen. Ein knappes erstes Kapitel führt in die Kolonial- und Expansionsgeschichte Frankreichs in Asien ein. Darauf folgt ein 160 Seiten starkes Kapitel über die Entwicklungen zwischen Juli 1937 und April 1938 („Lavieren und Profitieren“). Es beleuchtet zunächst die institutionellen und personellen Bedingungen französischer Fernostpolitik, wobei Alexis Léger, der langjährige Generalsekretär des Außenministeriums, deutlich hervortritt. Öffentlichkeit und Medien waren an den Entwicklungen in Ostasien und im eigenen Kolonialreich weitgehend desinteressiert. Nur einige Unternehmen besaßen handfeste Wirtschaftsinteressen. Weil aber Waffenexporte an China eine erhebliche Rolle spielten, geriet die französische Politik zwangsläufig in Konflikt mit Japan, das aus diesem Grund im Juni 1940 schließlich den nördlichen Teil Indochinas mit der Hafenstadt Haiphong und einer Bahntrasse nach Südchina besetzte.

Ende 1937 und im Frühjahr 1938 schien sich nach französischen und japanischen Kompromissen bzw. der beiderseitigen faktischen Anerkennung ihrer Ansprüche in China die Lage zunächst einmal beruhigt zu haben. Auch wenn die Waffenverkäufe an die chinesische Regierung anhielten, kam Frankreich Japan in anderen Aspekten entgegen (Paracel- und Spratley-Inseln). Klar war den Entscheidungsträgern in Paris, dass sie nur über ein sehr geringes militärisches Drohpotential verfügten. Ein fünftes Kapitel ist der sich zuspitzenden Lage in Europa und Asien im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges und den Konsequenzen für die französische Ostasienpolitik gewidmet. Sehr ausführlich wird hier geschildert, wie sich für die Entscheidungsträger der Konflikt entfaltete. Angesichts der eigenen Schwäche bemühte sich Paris um Glaubwürdigkeit sowohl gegenüber Briten und Amerikanern als auch gegenüber Japan. Dazu gehörten verstärkte Rohstofflieferungen für die japanische Kriegsindustrie und die „Kollaboration“ (S. 436) mit der japanischen Armee in den französischen Konzessionen in China. Ein sechstes Kapitel beleuchtet schließlich die politischen und strategischen Entwicklungen nach Kriegsausbruch im September 1939. Der Abzug der Militärmission aus China und vor allem geringere Waffenlieferungen an China sollten Japan besänftigen. Letztlich konnte die französische Diplomatie jedoch nur mehr auf die Ereignisse in Ostasien reagieren. Nach der deutschen Besetzung Frankreichs ergriffen schließlich die Japaner die Gelegenheit und besetzten friedlich den Norden Indochinas.

Eine breitere Leserschaft wird das Buch allein schon wegen seines Umfangs von gut 530 eng bedruckten Seiten kaum erschließen. Auch die sehr dichte Beschreibung diplomatischer Vorgänge, deren Komplexität in keinem Verhältnis zu den realhistorischen Entwicklungen stand, dürfte wohl primär für Diplomatiehistoriker von Interesse sein. Für Spezialisten der internationalen Beziehungen und des Zweiten Weltkrieges bietet das Buch aber zahlreiche neue und wichtige Erkenntnisse. Sehr eindrücklich arbeitet Nies Frankreichs Rolle und Position als einer hybriden Macht heraus, in der die Europainteressen aus guten Gründen Vorrang besaßen vor weltpolitischen Erwägungen und asiatischen Verwicklungen.

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14.04.2011
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