W. Reinhard: Kleine Geschichte des Kolonialismus

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Title
Kleine Geschichte des Kolonialismus.


Author(s)
Reinhard, Wolfgang
Series
Kröners Taschenausgabe 475
Published
Extent
416 S.
Price
€ 19,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Josef Bordat, Berlin

Wolfgang Reinhard war Professor für Neuere Geschichte in Augsburg und Freiburg. Kurz vor seiner Emeritierung (2002) erhielt er 2001 den deutschen Historikerpreis für seine Arbeiten auf dem Gebiet der europäischen Expansion, von denen sich insbesondere die Geschichte der europäischen Expansion, erschienen in vier Bänden zwischen 1983 und 1990, zum Standardwerk der Kolonialismusforschung entwickelt hat. 1996 hat er mit Kleine Geschichte des Kolonialismus eine viel beachtete Einführung in sein Arbeitsgebiet vorgelegt. Dieser lässt er nun eine zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage folgen, in der er seine Arbeit an den neusten Forschungsstand anpasst.

In dem vorliegenden Band wird einerseits geklärt, wie die Geschichte der Welt von Europa aus gestaltet wurde, andererseits wird immer wieder festgestellt, dass der eurozentrische historische Blick die Welt nicht „neutral“ sieht. Geschichtsbetrachtung ist niemals voraussetzungslos, sie kann nicht losgelöst vom Betrachter erfolgen. Die Erkenntnisinteressen und Urteilsbedingungen seiner spezifischen Perspektive müssen ebenso geklärt werden wie die enge Verflechtung von eigener, also: europäischer Tradition und der zu deutenden Weltgeschichte. Dieses Bewusstsein offenbart der Autor, wenn er feststellt, dass europäische Institutionen (Nationalstaat, Bildungssystem) auch heute noch „die diskursiven Praktiken stützen“, auch wenn er die strenge Dichotomie von „westlich“ und „autochthon“ zurückweist, auf der postmoderne Ansätze mit dem Ziel einer „Dekolonisation des Denkens“ basieren. Denn ein Verweis auf diesen statischen Gegensatz sei, so Reinhard, im Zuge permanenter „Aneignung“ europäischer Kultur seitens der ehemaligen Kolonien nur noch „im historischen Sinne“ angemessen, als heuristisches Paradigma der Kolonialismusforschung aber ungeeignet. Insoweit ist der Kolonialismusgeschichte Reinhards eine Art Metabetrachtung der Kolonialismusdeutung inhärent. Er leistet damit ganz nebenbei einen wertvollen Beitrag zur methodologischen Reflexion seines Fachgebiets.

In zwölf Kapiteln entfaltet Reinhard seine Kolonialismusgeschichte, ausgehend von der Definition des Kolonialismus als „Kontrolle eines Volkes über ein fremdes, unter wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Ausnutzung der Entwicklungsdifferenz zwischen beiden“ und der Unterscheidung von Stützpunkt-, Siedlungs- und Herrschaftskolonien. Der weitere Fortgang der Darstellung ist geographisch und chronologisch gegliedert, von den Entdeckungsfahrten des 15. Jahrhunderts bis zum Neo-Kolonialismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der als „Spätimperialismus“ dem Dekolonisationstrend des vergangenen Jahrhunderts zuwiderlief.

Zunächst verweist der Verfasser auf die Bedeutung der Schifffahrt. Mit der nautischen Eroberung des Meeres entstand der atlantische Herrschaftsraum Europa-Afrika-Amerika, der für die treibenden Mächte Spanien und Portugal die logistische Voraussetzung einer gewinnbringenden ökonomischen Verwertung des Überseebesitzes bildete. Im verhängnisvollen Handelsdreieck – europäische Schiffe brachten Waren von Europa nach Afrika, Sklaven von Afrika nach Amerika, Bodenschätze und Naturprodukte von Amerika nach Europa – zeigt sich ein ebenso zentraler wie problematischer Aspekt des Kolonialismus: die Verdinglichung und Verwertung des Menschen.

Ein weiterer Aspekt ist die Besiedlung der Kolonien, insbesondere in Amerika. Es zeigt sich deutlich, dass die Dekolonisation als Abtrennung der Kolonie vom Mutterland je eher einsetzte, desto größer der Europäer-Anteil an der Bevölkerung durch Einwanderung geworden war: Zunächst wurden die britischen Kolonien selbständig (auch wenn sie im „Commonwealth of Nations“ verbunden blieben), dann die spanischen und portugiesischen.

Auf Asien (Indien, China, Japan) und auf den europäischen Imperialismus in Afrika wird in eigenen Kapiteln jeweils sehr ausführlich eingegangen. Letzterer entstand aus der politischen Rivalität der Mächte, die Reinhard als „Balgerei“ bezeichnet, und einem ökonomischen Expansionismus unter den Vorgaben einer Freihandelsdoktrin, wie sie durch Ricardo Anfang des 19. Jahrhunderts Einzug in die kapitalistische Wirtschaftstheorie hielt und bis heute vehement vertreten, aber ebenso heftig kritisiert wird.

Die Phase der Dekolonisation in Asien und Afrika setzt nach dem Zweiten Weltkrieg ein, zum einen bedingt durch völkerrechtliche Schritte, die eine Emanzipation der kolonialisierten Völker und Staaten förderten, vor allem durch zentrale Dokumente wie die Charta der Vereinten Nationen (1945) und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), zum anderen durch die Unabhängigkeitsforderungen der betroffenen Völker und Staaten selbst. Reinhard macht deutlich, dass diese Entwicklung von zwei Geschwindigkeiten geprägt war: Ging es in Asien recht schnell, bedingt durch die militärische Niederlage Japans als Hauptkolonialmacht und die starke Nationalbewegung in Indien, mussten die afrikanischen Staaten für ihre Befreiung länger und härter streiten, weil die europäischen Mächte an ihren Besitzungen festhielten, zum Teil als Kompensation für ihre „Verluste“ in Asien.

Dagegen entstand 1948 im Nahen Osten ein neuer Staat, der eine expansive Siedlungspolitik vollzog: Israel. Aufgrund der jüdischen Einwanderung nach Palästina unter dem Druck russischer Pogrome im späten 19. Jahrhundert, vor allem aber bedingt durch den Nationalsozialismus, entstand das, was Reinhard den „letzten Fall großangelegter Kolonisation“ nennt, die sich in Folge der jüngsten Einwanderungswelle nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion (1991) und der „forcierten Ansiedlung von Juden in der Westbank“ als unumkehrbar zu erweisen scheint. Hoffnungen auf eine Dekolonisation (also eine Zwei-Staaten-Lösung), genährt durch die Osloer Gespräche (1993) und die Errichtung autonomer Palästinenserregime im Gazastreifen und in Teilen des Westjordanlands (1995), werden regelmäßig enttäuscht, da einerseits Israel – mit dem Sicherheitsargument im Rücken – Fakten schafft, die seine Herrschaftsrolle im Nahen Osten weiter zementieren, andererseits die politischen Organisationen der Palästinenser, Fatah und Hamas tief zerstritten sind.

Bei all dem Bemühen um kritische Distanz zu voreiligen Parallelitäts- und Kontinuitätsstereotypen, wie sie in der Dependenztheorie maßgeblich sind, lässt sich nicht ganz von der Hand weisen, dass Reinhards Blick auf die gelungene Assimilation europäischer Kultur („überall in den Kolonien war ,Aneignung’ am Werk“) bei gleichzeitiger Ausprägung soziokultureller Neuformationen („Hybriden“) den Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Unterentwicklung verharmlost. Zwar ist unstreitig, dass die Europäer auf viele Stammesgesellschaften Amerikas, Afrikas und Asiens auch befreiend und, etwa im Bildungsbereich, fördernd gewirkt haben, doch liegen die Wurzeln der allgemein als ungerecht empfundenen Weltordnung gerade in der wirtschaftlichen Rollenverteilung von Rohstofflieferant und Industriestandort, wie sie im Kolonialismus vorgenommen wurde, auch wenn dieser, wie Reinhard betont, weder notwendig noch hinreichend für die Industrialisierung in Europa gewesen sein mag. Globalisierung unter den Bedingungen der WTO kann insoweit eben doch als Fortschreibung des Kolonialismus verstanden werden, gerade auch vor dem Hintergrund der Reinhardschen Kolonialismusdefinition. Ersetzt man darin das historisch gewordene „Volk“ durch den supranationalen „Wirtschaftsraum“, wie Nordamerika oder die Europäische Union, dann liegt es nahe, im Kolonialismus eine Folie für die liberalistische Spielart von Globalisierung zu erkennen, angesichts deren organisationaler und institutioneller Bedingungen.

Wolfgang Reinhard gelingt darüber hinaus jedoch eine vollständige und dennoch angenehm schlanke Darstellung in handlichem Format. So liegt ein hervorragendes Kompendium der Kolonialismusforschung auf aktuellem Stand vor, das neben zahlreichen Karten und einem hilfreichen Register eine sorgfältig ausgewählte und kommentierte Bibliographie enthält. Eine Pflichtlektüre für alle, die sich mit der Geschichte europäischer Expansion beschäftigen, aber auch für alle, die etwas besser verstehen wollen, warum unsere Welt heute so ist wie sie ist.

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12.06.2009
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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