A. Kossert: Kalte Heimat

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Title
Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945


Author(s)
Kossert, Andreas
Published
München 2008: Siedler Verlag
Extent
431 S.
Price
€ 24,95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Friedemann Scriba, Berlin

Der Osteuropa-Historiker Kossert schreibt in dieser politisch engagierten Geschichte der deutschen Vertriebenen gegen den Mythos der gelungenen Integration der rund 14 Millionen Vertriebenen vor allem in der Bundesrepublik an. Er plädiert für eine angemessene Würdigung des Schicksals der Vertriebenen im öffentlichen Erinnerungsdiskurs, d.h. für eine Paradigmenergänzung im Sinne von Joachim Gaucks Worten im Katalog der vom Bund der Vertriebenen veranstalteten Ausstellung: "Es ist weder den Psychen der Beteiligten noch der Vernunft förderlich, wenn derartige Verluste, wenn Traumata dieser Größenordnung nicht im kollektiven Gedächtnis der Nation aufbewahrt werden. Was bislang in den speziellen Erinnerungsbiotopen der Vertriebenen – durchaus auch mit beträchtlichen Mitteln der öffentlichen Hand – gefördert wurde, sollte in den großen Rahmen des öffentlichen Gedenkens integriert und auch Teil der staatlichen Geschichtspolitik werden. Dabei wird nicht preisgegeben, was in der deutschen Erinnerungskultur in den letzten vier Jahrzehnten an Schuldanerkennung und Aufarbeitung der NS-Diktatur gewachsen ist. Es ist eben kein Paradigmenwechsel angesagt, der deutsche Schuld leugnen und die Nation als Hauptopfer darstellen wollte. Es geht allerdings um eine Paradigmenergänzung, die das Leid Unschuldiger als solches wahrnimmt, ernst nimmt und – wo möglich – betrauert!"1 Trotz der großen medialen Beachtung der landsmannschaftlichen Treffen habe der Diskurs über das Leid der Vertriebenen während und nach der Vertreibung sich im wesentlichen nach innen, an die Schicksalsgenossen, gerichtet und sei nicht wirklich Gegenstand des öffentlichen Diskurses geworden.

Der Band präsentiert sich als populärwissenschaftlich in gutem Sinn: Oberkapitel reihen anschaulich verschiedene Aspekte der Thematik aneinander; Text- und Bildeinlagen illustrieren einprägsam. Aus fachwissenschaftlicher Sicht würde ich mir eine stärkere Grundierung durch eine historisch-anthropologische Perspektive wünschen, die das Verhältnis zwischen nur partieller ökonomischer Kompensation im Lastenausgleich, Verteilungs- und Kulturkonflikten sowie der Integrationsfunktion ausgeprägter Binnendiskurse und marginal bleibender Außendiskurse systematischer ausleuchtet. Eine wenigstens skizzenhafte Einbettung in ähnliche außerdeutsche Phänomene hätte den Stellenwert der Thematik im europäischen Zusammenhang des Signums "Vertreibung im 20. Jahrhundert" aus der rein nationalen Optik herausnehmen können.

Für mich als westdeutsch geprägten Rezensenten ohne intensiven familiengeschichtlichen Bezug zur Thematik wirkt das Buch in seiner Stoßrichtung einerseits befremdlich, andererseits im alltagsgeschichtlichen Bereich ungemein Wissens erweiternd und daher gleichzeitig beschämend. Insofern bin ich selbst ein Symptom der von Kossert beschriebenen öffentlichen Erinnerungslage.

Zu den einzelnen Kapiteln:
In den Einleitungs- und Schlusskapiteln bewertet Kossert das Schicksal der Vertriebenen als stärkste durch die NS-Diktatur verursachte Verwundung der deutschen Gesellschaft neben der Verfolgung und Vernichtung der Juden, trennt klar zwei "Schicksalsgemeinschaften" (Einheimische und Vertriebene) mit fundamental unterschiedlichem Erleben der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte und nennt als Preis für das Ausbleiben einer politischen Radikalisierung im Westen die kulturelle Selbstverleugnung der Zugezogenen. Im Schlusskapitel klassifiziert er die Integration als "erzwungene Assimilation", charakterisiert die oben genannte Forderung nach Paradigmenergänzung als einen nach Deutschland selbst, nicht ans Ausland (Polen, Tschechien) gerichteten Diskurs und verweist – ähnlich wie die in den letzten Jahren vermehrte Literatur über die Kriegskinder – auf die generationenübergreifenden psychischen Langzeitbelastungen.

Auf den Schluss führen mehrere Kapitel hin, die sich eher mit den Metadiskursen befassen: Eine Aufzählung von filmischen und literarischen Werken zur Vertreibung, einige Thesen zu den psychologischen Wirkungen unbewältigten Schmerzes einschließlich der Tabuisierung in den 1960er/1970er Jahren in der Bundesrepublik nach dem Muster: "Im Volk der Täter durfte es keine Opfer geben" sowie der Verweis auf ein Vermächtnis der übrigens sehr heterogenen "verlorenen kulturellen Landschaften".

Im eigentlichen Sachteil folgen einander zunächst chronologische Kapitel. Zunächst umreißt Kossert den "Osten" geografisch mit den unterschiedlichen Herkunftsgebieten vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer und den Exodus, um dann die Erfahrung von Traumatisierung, Kulturschock, Elend und Rassismus in den neuen Siedlungsgebieten einerseits und die vertriebenenpolitische Praxis anhand des Lastenausgleichsgesetzes, des Siedlungsbaus u. a. m. andererseits zu beschreiben. Weitere sachsystematisch betitelte Kapitel befassen sich mit den Parteien und mit dem durch neue konfessionelle Mischungen sowie durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher binnenkonfessioneller Frömmigkeitskulturen stark veränderten kirchlichen Leben.

Der SBZ/DDR widmet Kossert ein kurzes Kapitel, wobei er sich – im Sinne gängiger Einschätzungen – weitgehend mit dem Hinweis auf Zwangsassimilierung und Tabuisierung begnügt. Die in Christoph Heins Roman "Landnahme" (2005) sichtbaren subkutanen, ebenfalls generationenübergreifenden Diskurse bleiben m. E. unterbelichtet.

Anmerkung:
1 Zitiert auf S. 349

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Published on
30.01.2009
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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