I. Altmann: Opfer des Hasses

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Title
Opfer des Hasses. Der Holocaust in der UdSSR 1941 - 1945. hrsg. von Hans-Heinrich Nolte


Author(s)
Altmann, Ilja
Series
Zur Kritik der Geschichtsschreibung 11
Published
Northeim-Sudheim 2008: Muster-Schmidt Verlag
Extent
588 S.
Price
€ 58,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Richard Albrecht, Bad Münstereifel

Die breit angelegte Untersuchung des Zeitgeschichtlers Ilja Altmann, derzeit Vizepräsident des 1992 gegründeten Moskauer „Holocaust-Zentrum für Forschung und Bildung“, ist die vom „Verein für Geschichte des Weltsystems“ veranlasste deutsche Übersetzung der ersten russischen Gesamtdarstellung des Holocaust an den „Ostjuden“ auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion 1941-1945. Die Studie erschließt ein historiographisches Dunkelfeld auch dadurch, daß sie – so Hans-Heinrich Nolte im Herausgebervorwort – als „erste Darstellung des Massenmordes an den Juden in den vom Deutschen Reich 1941-1945 besetzten Gebieten der damaligen UdSSR [...] auf einer angemessenen Quellenbasis [...] genaue Opferzahlen“ veröffentlicht. Diese waren in der UdSSR aus politisch-ideologischen Gründen teils generell tabuisiert, teils nachhaltig (auf gut eine Million „Holocaustopfer“ insgesamt) heruntergerechnet – wobei real etwa 2,7 bis 2,8 Millionen Menschen 1941-1945 „in den von Deutschland besetzten Territorien der damaligen UdSSR [...] erschossen, verbrannt oder verhungert wurden.“

Unabhängig von zahlreichen Fakten zum genozidalen Geschehen und zu nicht nur in den genauen Opferlisten ausgedrückten wesentlichen Einzelheiten, auf die hier nicht eingegangen werden kann, weist Altmanns Studie zwei Besonderheiten auf: zum einen die durch neue archivalische Quellenfunde erschlossene Materialdichte. Hier kann Altmann wohl auf noch während des sogenannten „Großen Vaterländischen Krieges“ begonnenen umfangreiche Vorarbeiten einer Arbeitsgruppe um die damaligen Sowjetautoren Ehrenburg/Grossmann zum „Schwarzbuch“ über den Völkermord an den sowjetischen Juden 1, über dessen Entstehung und Schicksal er selbst 1994/95 kurz in „Schwarzbuch“ 2 berichtete, zurückgreifen – geht zugleich weit darüber hinaus, indem er „Bestände aus 23 zentralen, lokalen und amtlichen Archiven in 16 Städten Russlands und der GUS sowie die Archivsammlungen des Holocaustmuseums der USA [...], des Yad-Vashem-Instituts, Jerusalem, des Museums ´Lochamej Hagetaot“, Israel, sowie des Museum of Deportation & The Resistance in Mechelen, Belgien“ auswertete, darunter etwa im Staatsarchiv der Russischen Förderation „Schwarzbuch“-Materialien, „Nürnberger Prozess“-Archivalien, Bestände der „Außerordentlichen Staatlichen Kommission zur Untersuchung der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Besatzer und ihrer Komplizen“ und des „Jüdischen Antifaschistischen Komitees der UdSSR“. Auf dieser breiten Quellengrundlage kann Altmann „die Hauptaufgabe des Buches in Angriff nehmen“, nämlich zum anderen „die Geschichte und die besonderen Merkmale des Holocaust in der Sowjetunion darzustellen.“ Diese Besonderheit(en) sieht Altmann bei aller Anerkennung der „Universalität“ des Holocausts während des Zweiten Weltkrieges im „systematischen Massenmord am jüdischen Volk Europas [...] auf dem sowjetischen Territorium“. Altmann bewertet die jüdische UdSSR-Bevölkerung deshalb als „besondere Kategorie der Naziopfer, weil sie der totalen Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt war [...] Es waren Juden, die unabhängig von ihrem Alter, der politischen Gesinnung und eventuellem Widerstand flächendeckend zu den ersten Opfern der Naziwillkür wurden. Die Vernichtung begann sofort nach der Besetzung des sowjetischen Territoriums und dauerte praktisch bis Kriegsende. Alle Juden der UdSSR wurden zu ´politischen und rassischen Gegnern´ des Naziregimes erklärt, die komplett ausgerottet werden sollten. Gleichzeitig aber waren die sowjetischen Juden die ersten Opfer des ungeheuerlichen Plans zur Vernichtung von Millionen Zivilbürgern eines bestimmten Staates aus rassischen, militärischen, wirtschaftlichen und anderen Gründen.“
Die gnadenlos-nachhaltige Ausrottungspolitik und ihre ´östlich des Bug´ angewandten faschistisch-barbarischen Methoden verweisen besonders eindringlich auf die Besetzer, ihren „zielgerichteten und flächendeckenden“ Vollzug des „antijüdischen Genozid“ und auf ihre im Vergleich zur ´klinischen´ Methode der industriellen Vergasung mit anschließender Verbrennung in den ´Vernichtungs-KZ´ eher ´archaische´ Brutalität beim "Holocaust östlich des Bug"3 – und damit zugleich zurück auf die (historische) deutsche Gesellschaft und deren „Verlust der humanen Orientierung“ 3, die alles „Denken und Empfinden in potentiell humanen Zukunftsperspektiven“ zerstörte. 4

„Für das Begreifen der Natur und des Wesens, der Ideologie und der Praxis des Naziregimes ist das von ihnen aufgebaute umfassende System zum Genozid an einem der Sowjetvölker sehr aufschlussreich. Bei der aufmerksamen Betrachtung des Holocaust auf dem sowjetischen Territorium wird die direkte Beziehung zum Hauptziel der Nazis, d.h. zum Sieg im Weltkrieg, offensichtlich. Dieses Ziel war nämlich unerreichbar, ohne die Gesellschaft nach Rassen- und Nationalitätskriterien zu zersplittern. Die Sowjetjuden schienen eine Idealtarnung für die wahren Ziele der Nazis zu sein. An den Juden wurden all jene Methoden der Propaganda, der Wirtschaftslenkung und der Rechtssprechung erprobt, die später, im Laufe der Änderung des Kräfteverhältnisses an der Front, auch bei anderen potentiellen Opfern angewandt wurden. An den Sowjetjuden wurde die Taktik des Massenmordens und des Verwischens der Spuren erprobt [...] Der Prozentsatz der Juden unter den vernichteten Zivilisten, vor allem in den Städten und größeren Ortschaften, ist außerordentlich hoch, ebenso der Prozentsatz der Ermordeten unter den Juden insgesamt, nicht mal 4 % der auf dem besetzten Territorium in der Vorkriegszeit ansässigen Juden haben überlebt [...] Die ideologische Begründung der Vernichtung der Juden als genetische Träger des Bolschewismus, die unmittelbar vor und während des Krieges von Deutschland gegen die Sowjetunion entwickelt wurde, ist für das Begreifen der Besonderheiten des Holocaust auf dem sowjetischen Territorium, seinen Umfang, die Geschwindigkeit und die Methoden von außerordentlicher Bedeutung.“

Altmanns Buch enthält zahlreiche Materialien unterschiedlicher Provenienz, die entsprechend einer einsichtigen Grobgliederung überwiegend deskriptiv kommentiert sind (was gelegentliche, meist an Konjunktivformeln wie „möglicherweise“, „hätte“, „wäre“ erkennbare, teilweise auch spekulative, Deutungen des Autors nicht ausschließt). Als Historiker geht Altmann zutreffend vom „Generalplan ´Ost´“ 5 als Rahmen zur „Verwirklichung der nationalsozialistischen Weltherrschaftspläne“ aus, ohne dortige Aussagen für bare Münze zu nehmen, und nähert sich über Kapitel zur antisemitischen Propaganda und zur rechtlichen und tatsächlichen Lage der Juden, ihrer Entrechtung, Ausgrenzung, Ghettoisierung (auch in verschiedenen Formen in unterschiedlichen Regionen der UdSSR), der Ghettoorganisation, der Rolle von Judenräten und Judenpolizei, dem Alltagsleben im Ghetto und der Ghettoauflösung dem Kernkapitel, der Untersuchung des „Holocaust an den sowjetischen Juden“, dessen Planung, Durchführung und Resultat. Nachdem Altmann im vierten Kapitel verschiedene Formen von Widerstand einschließlich der jüdischen Partisanen schilderte, problematisiert der Autor im „Holocaust und Gesellschaft“ genannten Ausblick die politische „Zwiespältigkeit der sowjetischen Führung in Bezug auf ´die Judenfrage´“ sowie ihre politische Mitverantwortung „für das Fehlen militärisch-politischer Maßnahmen, mit denen die Hilfe für die Ghetto- und KZ-Insassen durch die Partisanen und Untergrundkämpfer hätte gefördert werden können“ und spricht verschiedene Aspekte zu „Sowjetische Gesellschaft und Holocaust“ an, darunter auch den (von J.W. Stalin 1938 einmal öffentlich als „Überbleibsel des Kannibalismus“ bezeichneten) realexistierenden, nach dem Holocaust „sowohl im sowjetischen Hinterland als auch in den befreiten Territorien“ angestiegenen Antisemitismus und „das Verbot des Gedächtnisses an den Holocaust“, aber auch Handlungen zur Rettung von Juden, die Altmann angesichts der drohenden Strafen als Heldentaten von Nachbarn, Bekannten, Verwandten und anderer „mutiger Leute“, die „unbekannte und vom Tode bedrohte Menschen“ retteten, wertet, die zeigen, dass es auch unter den in der Sowjetunion lebenden Menschen, allen furchtbaren Bedrohungen zum Trotz, als praktisch wirksame humanitas und menschliche Würde „im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar.“ 6

Anmerkungen:
1 Grossmann, Wassili; Ehrenburg, Ilja, Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, Reinbek 1994; Ehrenburg, Ilya; Grossman, Vassili, Le livre noir. Sur l'extermination scélérate des Juifs par les envahisseurs fascistes allemands dans les régions provisoirement occupées de l'URSS et dans les camps d'extermination en Pologne pendant la guerre de 1941-1945. Textes et témoignages, Arles 1995; Ehrenburg, Ilya; Grossman, Vasily, The Black Book. The ruthless murder of Jews by German-Fascist invaders throughout the temporarily-occupied regions of the Soviet Union and in the death camps of Poland during the war of 1941-1945 [from the Russian by John Glad & James S. Levine], New York 1981. The Complete Black Book of Russian Jewry [introd. Helen Segall; foreword Irving Louis Horowitz; translation David Alan Patterson], New Brunswick 2001.
2 Altman, Ilya A., Histoire et destinée du Livre Noire, in: Ehrenburg, Ilja; Grossman, Vassili, Livre noire, S. 17-32. Zu den beiden Haupteditoren vgl. Joshua Rubenstein, Tangled Loyalties. The Life and Times of Ilya Ehrenburg, New York 1996; Vasily Grossman, A Writer at War. Vasily Grossman with the Red Army 1941-1945 [ed. and translated Antony Beevor & Luba Vinogradova], New York, 2006.
3 Nolte, Hans-Heinrich, Die andere Seite des Holocaust; in: Die Zeit Online 5.2008 [240108], S. 82: http://www.zeit.de/2008/05/A-Slonim-Holocaust; vgl. auch Nolte, Hans-Heinrich, Töten in Belorussland 1936-1944; in: Gleichmann; Peter; Kühne Thomas (Hrsg.), Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert, Essen 2004, S. 143-157: „Im sowjetischen Fall blieb nicht nur die politische, sondern auch die soziale Kontrolle bei den Tötungen erhalten, da Urteile vollstreckt wurden [...] Beim schnellen Rückzug 1941 und im Partisanenkrieg sind die sozialen Kontrollen jedoch auch auf sowjetischer Seite zusammengebrochen. Im nationalsozialistischen Fall blieb die politische Kontrolle erhalten, die soziale dagegen wurde bewusst außer Kraft gesetzt. Das Töten wurde zu einem Abenteuer gemacht, bei dem viele der durch unsere Moral verbotenen Gelüste – vom Töten zum Rauben, vom Sadismus zur Vergewaltigung – in bestimmten, von der Führung festgelegten Situationen und gegen Angehörige bestimmter politischer und ethnoreligiöser Gruppen und insbesondere gegenüber Juden befriedigt werden konnten, ohne Strafe befürchten zu müssen.“ (S. 156 f.)
4 Abendroth, Wolfgang, Subjekt – Faschismus – Antifaschismus; in: Dialektik 7 (1983), S. 91-111; Giordano, Ralph, Die zweite Schuld oder Von der Last ein Deutscher zu sein, München 1990, S. 11 f.
5 Roth, Karl Heinz, „Generalplan Ost“ – „Gesamtplan Ost“. Forschungsstand, Quellenprobleme, neue Ergebnisse; in: Rössler; Mechtild; Schleiermacher, Sabine (Hrsg.), Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993 (= Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts), S. 25-117; zuletzt zusammenfassend: Eichholtz, Dietrich, „Generalplan Ost“ zur Versklavung osteuropäscher Völker; in: Utopie Kreativ 15 (2004) 167, S. 800-808.
6 Seghers, Anna, Das siebte Kreuz, Reinbek 1965, S. 315.

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24.10.2008
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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