U. Altermatt u.a. (Hg.): Religion und Nation

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Title
Religion und Nation. Katholizismen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts


Editor(s)
Altermatt, Urs; Metzger, Franziska
Series
Religionsforum 3
Published
Stuttgart 2007: Kohlhammer Verlag
Extent
255 S.
Price
€ 29,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Martin C. Wald, Braunschweig

„Die Treue zur Nation als Gabe Gottes“: Das Diktum des ungarischen Geistlichen Nepomuk János Danielik von 1853, das Árpád von Klimó zitiert, 1 hätte man sich gut als aussagekräftigere Überschrift über dem erneut spröde und verwechselbar „Religion und Nation“ benannten Band vorstellen können, 2 in dem 13 Forscher aus fast ebenso vielen Ländern einem dem Diktum innewohnenden Problem nachspüren wollen: dem vielfach gebrochenen Zugang christlich-katholischer Sinndeuter zur „modernen“ Sinnstiftungsressource der Nation. Für gewöhnlich wird dem Zugang von „ultramontanem“ Katholizismus zur Nation ja eine Widersprüchlichkeit untergeschoben, die beim Verhältnis von „aufgeklärtem“ (und dann doch wohl universalistischem) Protestantismus und Nation merkwürdigerweise kaum zur Kenntnis genommen wird.

Die dem Band zugrunde liegende Fribourger Tagung von 2004 3 hatte auch dem Zweck gegolten, den seit Jahren vom Initiator Urs Altermatt eingeschlagenen Weg, diesen Zugang als „Ambivalenz“ zu beschreiben – katholischer „Antimodernismus mit modernen Mitteln“ – im transnationalen und vergleichenden Maßstab zu überprüfen. 4 Theo Salemink (S. 177–202) ging sogar noch ein Stück weiter und fasste die Tatsache, dass sich die praktisch positive Haltung der niederländischen Katholiken zum demokratischen Rechtsstaat im späten 19. Jahrhundert offenbar mit ihrer zeitgleich ultramontanen, also Demokratie und Rechtsstaat in religiöser Hinsicht verdammenden Prägung, beißt, unter die Formel einer „orthodoxen Modernisierung“, ja eines „Paradox“. Saleminks theologische Erklärung, die Neuscholastik als herrschende Denkrichtung habe auf zwei Niveaus argumentiert – einem übernatürlichen Niveau der göttlichen Heilsökonomie und einem natürlichen Niveau des Individuums, der Gesellschaft und des Staates –, löst dieses Paradox jedoch überzeugend auf und sollte in die internationale Forschung stärker als bislang Eingang finden. 5 Zum Highlight des Bandes wird der Beitrag des Tilburger Kirchenhistorikers auch dadurch, dass er daraus auch noch plausible aktuell-religionspolitische Schlüsse zieht: Keineswegs müsse der Islam, wie es zum Beispiel der belgische Kardinal Daneels nach dem Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh äußerte, zunächst eine religiöse „Aufklärung“ erfahren, um die Grundlagen der westlichen Zivilisation zu akzeptieren.

Über Salemink hinaus ist der theoretische Output des Bandes zu vernachlässigen. Zwar lässt sich mit den luftigen Beziehungsmodalitäten zwischen katholischem und laizistischem Frankreich, die Francis Python vorschlägt – Konfrontation, Distanz, Austausch, Angleichungen, Transfer, Überschreitung – gut arbeiten. Und auch die Überlegung von Siegfried Weichlein, die Auflösung des Konflikts zwischen Staat und Kirche seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sei aus dem Obsoletwerden von Souveränitätsfragen und der „Ethisierung“ ihres Verhältnisses zu erklären, ist diskutabel. Doch handelt es sich hier doch eher um Konzeptualisierungen des Verhältnisses von „Kirche und Staat“ und nicht von „Katholizismus und Nation“ – in vielen Aufsätzen, besonders im Beitrag von Carlo Moos über Italien, bricht sich diese Fokusverschiebung allzu unmittelbar Bahn.

Insgesamt nachbesserbar sind auch die Konzepte des Fribourger Kreises für Religionsforschung selbst. Franziska Metzger, die zuletzt ihre Dissertation über die katholische Schweizer Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert abgeschlossen hat, treibt den diskursanalytischen Ansatz in nicht nur sprachlich, sondern auch intellektuell unverdaulicher Weise auf die Spitze. Im Wust von Begriffen, Beschreibungsebenen und „Mechanismen“, in denen anscheinend das Rad noch einmal erfunden werden soll, kennt sich schwerlich die Autorin selbst noch aus. Da tun „Diskurse“ etwas „diskursiv“ (Was denn sonst?, S. 165, zweimal!), und eine Aussage wie jene, dass „der konfessionelle Faktor […] entscheidend auf die Bildung einer katholischen Erfahrungsgemeinschaft“ wirkte (S. 159f.), ist nicht nur selbsterklärend, sondern lässt, da man die Redundanz erst nach mehrmaligem Lesen bemerkt, bald auch einen Widerwillen (und ein Misstrauen) gegen den ganzen Text zurück. Fragwürdig ist aber bereits die nicht transparent gemachte Vorentscheidung zur strikten Gegenüberstellung einer „nationalen“ mit einer „katholischen“ Kommunikationsgemeinschaft, was dann in der Tat doppelte Loyalitäten nur noch als überkomplizierte „Amalgamierung“, „Überblendung“ oder „Transfer“ möglich erscheinen lässt. Man vergleiche dies mit der fachkompetenten, eleganten und nachvollziehbaren Argumentation bei Salemink! Immerhin sind bei Metzger einige Ergebnisse interessant, zum Beispiel die sinnstiftende Erhebung der katholischen Innerschweiz zum nationalen Rollenmodell durch Katholiken im Anschluss an deren Niederlage im Sonderbundskrieg.

Auch Altermatts Typologie, die er in einem Einleitungsartikel vorstellt, stemmt nicht viel. Sie unterscheidet im Verhältnis zwischen religiöser und nationaler Kommunikationsgemeinschaft ein „identitäres Modell“ (zum Beispiel das frühe Belgien), ein „Kultursymbiose- und Separationsmodell“ (zum Beispiel Irland), ein „Konkurrenzmodell“ (zum Beispiel Deutschland) und ein „Modell traditionalistischer Opposition“ (mit dem Prototyp Frankreich). Abgesehen davon, dass hier genau genommen nur von „Typen“ und nicht von „Modellen“ die Rede sein sollte, sprechen die Aufsätze oftmals selbst eine andere Sprache. Die „zwei Spanien“ im Aufsatz von Mariano Delgado zeigen, wie umkämpft die „identitäre“ Besetzung der Nation durch die katholische Religion doch war. Der Philosoph Ortega y Gasset entwarf ein „radikal laizistisches Idearium für die Gestaltung der Gegenwart“ (S. 57), und bis zur (wiedergewählten!) aktuellen Regierung Zapatero ist diese Strömung vital. Delgado macht zu Recht darauf aufmerksam, dass es sich bei diesen Kritikern nichtsdestotrotz um Katholiken handelte und handelt. Hätte ein Pole an der Tagung teilgenommen, wäre er bei der Kennzeichnung des polnischen Nationalismus als „sezessionistisch“ (gegen die – neuzeitlichen! – Besatzer Russland, Preußen und Österreich) vermutlich gar mit einem Fluch gegen die Veranstalter auf den Lippen aus dem Sitzungssaal gestürmt. Altermatt hatte im Anschluss an die Tagung eine ergänzte Version seiner Typologie unter den Autoren zirkulieren lassen – es ist nicht erstaunlich, dass nur zwei von ihnen (Klimó und Moos) im fertigen Beitrag darauf Bezug nehmen.

Am erfreulichsten ist der Band immer dann, wenn klare Thesen formuliert und liebgewonnene Stereotypen auf ihren Wirklichkeitsgehalt abgeklopft werden. Ernst Bruckmüller glaubt dem vielzitierten Friedrich Heer nicht, der recht unreflektiert „Österreich“ und „Katholizismus“ assoziiert hatte. Und in der Tat, der Katholizismus war viel zu stark mit der (multi-nationalen) Habsburgermonarchie verbunden, als dass er den Kristallisationspunkt für eine Nation Deutsch-Österreich hätte abgeben können. Im Gegenteil: In seiner radikalen Version verband sich das nationale Bewusstsein der Deutsch-Österreicher mit einem heftigen antikatholischen Affekt. Die Entstehung des heutigen österreichischen Nationalbewusstseins scheint mit Haut und Haar an der Wiedererringung der (neutralen) Souveränität 1955 und der republikanischen Staatsform zu hängen, so sehr, dass die ehemalige massive Spaltung Österreichs in einen katholischen und antiklerikalen Bevölkerungsanteil heute nahezu in Vergessenheit geraten ist. In einem weiteren starken Beitrag zerschmettert James E. Bjork quasi im Vorübergehen den Opfermythos polnischer Geschichte, indem er anhand von Daten zu Kirchenbesuch und Sakramentsempfang die stärkste religiöse Bindung gerade für jene Regionen des Landes ermittelt, deren Menschen vor 1918 am wenigsten „unterdrückt“ gewesen waren: den Polnisch-Österreichern von Galizien. Der „Polak-Katolik“ sei mithin ein Kurzschluss, und Bjork mahnt bei seinen polnischen Kollegen eine Kartierung der religiösen
Geographie des Landes an, um diesen regionalen Differenzierungen noch sicherer auf die Spur zu kommen. Bjork ist auch fast der einzige Autor, der von sich aus vergleichende Perspektiven einnimmt: Oberschlesien, mit gemischter Population und starkem Bevölkerungswachstum, das industrialisiert und gleichwohl sehr gläubig sei, sei eher Belgien, dem Ruhrgebiet oder dem methodistischen Wales ähnlich als den ländlichen Regionen Polens. Nur der Autor des Irland-Aufsatzes, Sean J. Connolly, kann letztlich doch nicht umhin als dort – zumindest für eine lange Epoche zwischen dem frühen 19. Jahrhundert und dem ökonomischen Boom seit den 1980er Jahren – Nationalismus und Katholizismus sowie Unionismus und Protestantismus nahezu gleichzusetzen.

Bei ein wenig mehr Vereinheitlichungswillen und -zeit hätte man – in Anbetracht der fast komplett-europäischen und fast nie abseitigen Ausführungen zu Frankreich, Italien, Spanien, Irland, Polen, Tschechien, Ungarn, Deutschland, Österreich, Belgien, den Niederlanden und der Schweiz – dem Band einen noch stärker handbuchartigen Charakter geben können, was ihn für die Zukunft wohl unverzichtbar gemacht hätte. Doch auch so ist hier vieles Informative und das meiste Wichtige über das Verhältnis der europäischen Katholizismen zu „ihren“ Nationen versammelt. Der Blick über den Fribourger Tellerrand ist trotz aller genannten Schwächen grundsätzlich geglückt.

Anmerkungen:
1 Komplett zitiert „Die Treue zur Nation ist nur dann eine legitime Pflicht, wenn ich sie als Gabe Gottes betrachte.“ (S. 220)
2 Zu nennen sind hier die Bände: Haupt, Heinz-Gerhard; Langewiesche, Dieter (Hrsg.), Nation und Religion in Europa, Frankfurt am Main 2004; Geyer, Michael; Lehmann, Hartmut (Hrsg.), Religion und Nation – Nation und Religion, Göttingen 2004; auch Teilaspekte stehen gerne unter diesem Obertitel: Bremer, Thomas (Hrsg.), Religion und Nation. Die Situation der Kirchen in der Ukraine, Wiesbaden 2003.
3 Ein von Franziska Metzger verfasster Tagungsbericht bei H-Net nachzulesen unter http://www.h-net.org/
mmreviews/showrev.cgi?path=727. Damals gab es noch keine Beiträge über Deutschland, Irland, Polen und Österreich.
4 Zentral dabei immer noch: Altermatt, Urs, Katholizismus und Modern. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl. Zürich 1991; seitdem modifiziert in mehreren Aufsätzen.
5 Diese Gedanken sind weiter ausgeführt in: Salemink, Theo, katholieke kritiek op het kapitalisme: 1891–1991; hondert jaar debat over vrije markt en verzorgingsstaat, Amersfoort 1991.

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10.10.2008
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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