C. Charle u.a. (Hrsg.): Anglo-French attitudes

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Title
Anglo-French attitudes. Comparisons and transfers between English and French intellectuals since the eighteenth century


Editor(s)
Charle, Christophe; Vincent, Julien; Winter, Jay
Published
Extent
321 S.
Price
£ 60.00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Hartmut Kaelble, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Dieses Buch behandelt eine europäische Entfremdung: die wachsende gegenseitige Distanz und Abschließung zwischen französischen und englischen Intellektuellen seit dem 18. Jahrhundert. Es ist herausgegeben von guten Kennern der französisch-britischen Beziehungen, von Christophe Charle, einem der führenden europäischen Sozial- und Kulturhistoriker, der zuletzt einen französisch-britisch-deutschen Vergleich des Niedergangs der imperialen Gesellschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und davor ein Buch über die Intellektuellen in Europa im 19. Jahrhundert schrieb; von Jay Winter, dem besten amerikanischen Kenner der europäischen Gesellschaft und Kultur im Ersten Weltkrieg, ebenfalls sehr erfahren im französisch-britischen Vergleich; Julien Vincent, einem jüngeren französischen Historiker, der gleichzeitig am Wolfson College in Oxford und am CNRS in Paris lehrt. Schlüsselaufsätze dieses Buches zeigen die Entfremdung der französischen und britischen Intellektuellen auch für Perioden der besonders engen politischen Zusammenarbeit beider Länder.

Das wechselseitige französisch-englische Desinteresse der Intellektuellen ist eigentümlich, weil Frankreich wie England mit anderen Ländern enge intellektuelle Beziehungen besaßen und man sich diese Entfremdung weder in Frankreich noch in England aus einer nationalen Selbstisolation der Intellektuellen erklären kann: Frankreich hatte fast immer enge intellektuelle Beziehungen zu Deutschland (während der deutschen Besatzung und nach dem Zweiten Weltkrieg vorübergehend abgeschwächt), zu Italien und Spanien und entwickelte vor allem in der Zwischenkriegszeit und in den vergangenen Jahrzehnten einen starken, wechselseitigen Austausch mit den USA. Großbritannien besaß enge intellektuelle Beziehungen zu den USA und erheblichen Einfluss und Austausch in und mit Deutschland.

Die französisch-englische Beziehungsschwäche entstand nicht durch einen Krieg oder durch eine Besatzung, sondern entwickelte sich allmählich. Im frühen 18. Jahrhundert waren die Beziehungen noch eng. Der französische Frühneuzeithistoriker Pascal Brioist zeigt in seinem Artikel über die Royal Society und die Académie des Sciences, dass in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der intellektuelle Austausch noch intensiv war, eine ganze Reihe von Franzosen Mitglieder der Royal Society wurden, Artikel von Franzosen in britischen Zeitschriften und umgekehrt französische Übersetzungen von englischen Büchern über die zentralen Themen der Zeit erschienen. Daniel Roche schildert ganz ähnlich in seinem Artikel über die Engländer im Paris des 18. Jahrhunderts die engen französisch-britischen Beziehungen, die große Zahl von Engländern in Paris, allerdings auch eine Asymmetrie des Reisens, das geringere Interesse von Franzosen, nach London zu reisen und auch eine gewisse Abgeschlossenheit der feinen französischen Gesellschaft gegenüber Ausländern, auch gegenüber Engländern. Die Artikel von Alexander Cook über den großen Erfolg des französischen Historikers und Publizisten Constantin Volney am Ende des 18. Jahrhunderts, von Laurence W.C. Brockliss über die französische literarische Öffentlichkeit und die englische Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, David Pulfreys Vergleich französischer und englischer Sozialwissenschaften um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Blaise Wilferts Vergleich des literarischen Imports in Frankreich und Großbritannien um 1900 und Florence Tamagnes Artikel über die Netzwerke homosexueller Intellektueller zeigen ebenfalls den intensiven intellektuellen Austausch zwischen Großbritannien und Frankreich.

Eine Reihe anderer Artikel arbeitet Divergenzen heraus: Julien Vincent schildert in seinem Artikel über die wirtschaftspolitische Öffentlichkeit eine paradoxe Divergenz um 1900: in der englischen Öffentlichkeit wurden häufig und gerne französische manchesterliberale Autoren behandelt, da es in England diese wirtschaftliche Denkrichtung nicht mehr gab und überhaupt der Manchesterliberalismus als englische Denkrichtung in Deutschland erfunden worden war. Deshalb das gezielt paradoxe Zitat: "The German Manchester School is French". (S. 210) Der britische Historiker Stefan Collini kritisiert die Vorstellung von einem völligen Fehlen von Intellektuellen in Großbritannien. Dieser Mythos aus den 1950er- und 1960er-Jahren stellt in seinen Augen die oppositionellen Intellektuellen Frankreichs viel zu sehr als einen europäischen Normalfall heraus und sieht den politisch integrierten britischen Intellektuellen vorschnell als die Ausnahme an. Die tiefe Entfremdung zwischen französischen und englischen Intellektuellen bestreitet freilich auch er nicht. Christophe Charle beschreibt in seinem Artikel zur französischen Debatte über Großbritannien einen Umbruch im Bild der französischen Intellektuellen um die Jahrhundertwende: Während Großbritannien vor diesem Umbruch in den Debatten über die Reform der französischen Erziehung noch ein uneingeschränktes positives Modell darstellte, wurde es nach diesem Umbruch eher ein Beispiel für Nationalismus, für einen nur scheinbar liberalen Imperialismus und für eine stärker als in Frankreich von inneren Konflikten und Krisen bedrohte Gesellschaft. Jay Winter beschreibt, wie der Erste Weltkrieg von französischen und englischen Intellektuellen ganz verschieden gesehen wurde, teils weil Frankreich eine Invasion erlebte, Großbritannien dagegen nicht, teils weil die Kriegsveteranenbewegung nach dem Ersten Weltkrieg in Frankreich eine politische pressure group wurde, in Großbritannien dagegen nicht, vor allem aber weil das Verhältnis der Intellektuellen zur Politik in Frankreich anders aussah, Politiker oft halbe Intellektuelle waren, in Großbritannien dagegen Intellektuelle kein Modell für Politiker waren. Französisch-englische Divergenzen sehen auch Pascale Casanova in ihrem Vergleich der Debatte über Ibsen in Frankreich und England im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und Christophe Prochasson in seinem Artikel über die englische Krise im französischen Denken um 1900, eine Anspielung auf das viel zitierte Buch von Robert Digeon über "la crise allemande de la pensée française". Eine wichtige, mehrfach erwähnte Ausnahme in dieser französisch-englischen Beziehungsschwäche war allerdings Marc Bloch, der enge Verbindungen mit englischen Kollegen besaß und Frankreich viel mit England verglich.

In einem schönen Schlusswort gibt Christoph Charle für die erstaunliche englisch-französische Entfremdung der Intellektuellen seit der Zwischenkriegszeit verschiedene Gründe an: die scharfe Konkurrenz zwischen den Imperien Großbritanniens und Frankreichs und den unterschiedlichen Vorstellungen ihrer Mission, die von Intellektuellen mitformuliert und mitgetragen wurden; die intensivere Verbindung mit der kulturell attraktiveren USA statt der direkten Beziehung über den Kanal hinweg; schließlich auch die Abschwächung des klassischen, generalisierenden Intellektuellen, der einst die engen französisch-englischen Beziehungen getragen hatte, und das Aufkommen des Experten, der in seine Disziplin eingebunden war und für den das andere Land jenseits des Kanals wenig attraktiv war. Obwohl sich britische und französische Intellektuelle nach dem Zweiten Weltkrieg mit sehr ähnlichen Entwicklungen wie der Entkolonialisierung, dem Aufstieg der Konsumgesellschaft und der Expansion eines sehr hierarchischen Bildungssystems befassen mussten, blieben sie daher gegeneinander abgeschlossen.

Der Band ist nicht ohne Widersprüche, die freilich in Sammelbänden schwer vermeidbar sind und auch ihren guten Sinn haben. Nur ein Teil der Aufsätze behandelt tatsächlich die französisch-englische Entfremdung der Intellektuellen. Viele Beiträge schildern ganz im Gegenteil den engen Austausch. Man hätte daher einerseits gerne gewusst, ob es vielleicht vor dieser Entfremdung eine besonders enge englisch-französische Beziehung der Intellektuellen gab. Andererseits hätte man sich mehr Artikel über die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und auch über Bereiche wie Film, Fernsehen, Malerei, Populärmusik, aber auch über Naturwissenschaften gewünscht, um zu sehen, ob die französisch-englische Entfremdung auch in diesen Bereichen bestand und sich hielt. Insgesamt kann man aber diesen Sammelband nur zur Lektüre empfehlen, nicht zuletzt wegen der klaren und entschiedenen Zusammenfassung durch Christophe Charle.

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10.04.2008
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