M. Connelly: Fatal Misconception

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Title
Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population


Author(s)
Connelly, Matthew
Published
Cambridge/Mass. 2008: Belknap Press
Extent
521 S.
Price
$ 35.00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Heinrich Hartmann, Frankreichzentrum, Freie Universität Berlin

Die Geschichte der Programme zur Kontrolle der Weltbevölkerung ist keine Erfolgsgeschichte. Es ist aber auch keine geradlinige Geschichte eines Misserfolgs. Seit den Anfängen eines weltumspannenden Bevölkerungsdiskurses vor gut hundert Jahren spiegelt sie vielmehr die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Sie ist genau so inkonsistent, wie die Interessen ihrer sozialen Trägerschichten. Das Vorhaben, eine solche Geschichte – zumindest die Geschichte eines wissenschaftlichen Diskurses zur globalen Bevölkerung – zu schreiben, flößt unweigerlich Bewunderung ein. Der New Yorker Historiker Matthew Connelly hat sich dieser Herausforderung gestellt. Pragmatismus und prägnante Fragestellungen leiten ihn dabei und erleichtern die Orientierung in diesem Parforceritt durch die Geschichte eines Jahrhunderts des Redens über die „Weltbevölkerung“. Connelly umschifft dabei mit erfrischender Leichtigkeit die Grabenkämpfe zwischen einer konstruktivistischen Wissensgeschichte und einer „realen Bevölkerungsgeschichte“, wohl wissend, dass gerade in der demografischen Analyse historische Arbeiten noch weniger als in anderen Gebieten absolute Objektivität beanspruchen dürfen; zu eng war das Wechselverhältnis zwischen beiden Disziplinen und bleibt es bis heute. Ob im Fall von Eugenikern oder Entwicklungshelfern, es ist nicht das Anliegen des Autors, individuelle Handlungsmotive anzuprangern, denn ihre Motive waren „bestimmt nicht weniger gut gemeint, als die derjenigen, die heutzutage von Humankapital, nachhaltiger Entwicklung und Lebensqualität sprechen“ (S. 8).

Connellys Perspektive auf die Globalgeschichte ist dabei weit davon entfernt, dem Lesepublikum globale Vollständigkeit suggerieren zu wollen. Vielmehr ist es eine Geschichte, in der dem Nationalstaat als Handlungseinheit nur äußerst eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Es überrascht allerdings auch kaum, dass er den Ausgangspunkt der Geschichte des globalen Bevölkerungsdiskurses im nationalisierten Europa des 19. Jahrhunderts sah. Industrialisierung und militärische Stärke stellten hier die beiden Vektoren des frühen demografischen Diskurses dar, der über die nächsten 150 Jahre zwischen einem verallgemeinernden „zuviel“ und „zuwenig“ hin und her schwanken sollte. Der Gedanke einer nachhaltigen Geburtenkontrolle erwuchs dabei aus dem Zusammenspiel zwischen Naturereignissen, sozialen Bewegungen der neuen bürgerlichen Gesellschaft, hygienischen und medizinischen Diskursen, nationalen Konkurrenzkämpfen und der ständig präsenten Intervention der katholischen Kirche. Das heikle Unterfangen, auf knappstem Raum diese verschiedenen Strömungen zusammenzufassen bringt den Autor allerdings dazu, Entwicklungen zu homogenisieren und – etwa der eugenischen Bewegung vor 1914 – zu große Bedeutung beizumessen.1

Entwickelte sich in der Zeit vor 1914 eine Art von Matrix des globalen Bevölkerungsdiskurses, so nahm die politische Bewegung zur aktiven Regulierung ihren Ausgang erst nach dem Ersten Weltkrieg und zum guten Teil auf Grund dieses Krieges. Die Erfahrung der hohen Verluste schürte in Europa zum ersten Mal auch massiv die Angst vor dem quantitativen Bedeutungsverlust der europäischen Bevölkerung im Vergleich zum Rest der Welt. In diesem Sinne verbanden die Projekte für Weltbevölkerungsprogramme so gegensätzliche Gruppierungen wie die Frauenbewegung, die katholische Kirche und die Eugeniker und schrieben gleichzeitig die Vorstellung von demografischen Krisenregionen fest in das Bild der westlichen Bevölkerungswissenschaft (S. 60). Schon hier wird eine der Stärken des Autors deutlich, der sich darum bemüht, die Interessenlagen und Handlungsräume etwa der kolonialen Akteure nicht zu vernachlässigen, ohne allerdings prinzipiell die Dominanz westlicher Wissenschaftler in dieser Frage zu bezweifeln. Mit der ersten Weltbevölkerungskonferenz in Genf im Jahre 1927 wurde dieser Diskurs endgültig weiß und männlich, ungeachtet der beachtlichen Aktivität, die gerade eine Figur wie Margret Sanger in dieser frühen Phase spielen konnte. Das „Interventionsobjekt“, auf das die Wissenschaftler fokusierten, war dagegen weiblich und lebte in den Kolonien. Doch gerade die heftig Ablehnung jeglicher Eingriffe in das individuelle Reproduktionsverhalten von Seiten des Vatikans mag auch die Ursache dafür gewesen sein, dass die politische Ebene Schwierigkeiten hatte, eine eindeutige Haltung gegenüber solchen Maßnahmen zu formulieren und stattdessen eine untergeordnete, zivilgesellschaftliche Ebene in den Debatten dominierte. Erst durch die neuen machtpolitischen Umwälzungen und die zunehmende Entstehung diktatorischer Zwangsregime änderte sich diese Konstellation grundlegend. Nicht erst die deutschen Vernichtungskriege im Osten gingen Hand in Hand mit rassenhygienischen Bevölkerungspolitiken. So sieht Connelly etwa in den Zwangsmaßnahmen der Japaner nach der Eroberung der Mandschurei den Anfangspunkt einer neuen Ära, in der Geburtenkontrolle zum festen Katalog militärischer Invasion und Dominanz zu rechnen war. (S. 79)

Doch dessen ungeachtet stellte der Zweite Weltkrieg – im Gegensatz zum Ersten – keinen fundamentalen Paradigmenwechsel dar. Trotz der enormen Anzahl von Toten stoppte der Krieg letztlich das Wachstum der Weltbevölkerung nicht. Nach 1945 verschärften sich das Bewusstsein und der politische Handlungsdruck weiter. Wieder arbeitet Connelly hier die relativ schwache Rolle des Nationalstaates heraus. Stattdessen war es die UNO, die diese Programme federführend betrieb, die allerdings an den Konflikten bei ihrer Umsetzung auch nahezu zerbrach. Diese Programme lassen zudem eine neue wissenschaftliche Praxis auftauchen: die Prognose der weltweiten Bevölkerungsentwicklung, auf die sich nur allzu leicht eindrucksvolle Krisenszenarien aufbauen ließen. Diese Diskussionen boten nun den Ländern einer neuen, „Dritten“ Welt eine neue politische Bühne. Assistiert wurden sie hierbei von einer Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen wie der International Planned Parenthood Federation (IPPF) und privaten Stiftungen, allen voran der Rockefeller- und der Fordstiftung. Connelly – selbst ein Spezialist der französischen Algerienpolitik – verpasst es dabei nicht, auch die anglo-amerikanische Brille abzusetzen und durch die besonderen Beziehungen zwischen Frankreich und seinem Département Algerien die Widersprüche in der transnationalen Bevölkerungsdiskussionen zu verdeutlichen. Die Unmöglichkeit, auf dem gleichen staatlichen Territorium eine pronatalistische Politik in Frankreich und Geburten regulierende Maßnahmen in Algerien durchzuführen, führte letztlich zu einer relativen Schwäche der französischen Bevölkerungspolitik (S. 121). Beispiele wie dieses zeigen immer wieder wie wenig „die internationale Bevölkerungspolitik in die Kategorien des Kalten Krieges passten“ (S. 152).

Im entwicklungspolitischen Take off der 60er und 70er Jahre stürzten sich Wissenschaftler auf die nun zur Verfügung stehenden Forschungs- und Projektbudgets, mussten aber gleichzeitig feststellen, dass sich die Bevölkerungen in den Zielregionen häufig nicht wie die „Bakterien in der Petrischale“ verhielten (S. 172), sondern weitgehend unberechenbar blieben. Nicht zum ersten Mal stützt sich Connelly dabei vor allem auf das Beispiel Indien – ohne Zweifel einer der wichtigsten Erfahrungs- und Aktionsräume für diesen neuen „Jet-Set der Bevölkerungsexperten“ (S. 234). Die Programme in anderen Ländern klammert die Darstellung dagegen vielleicht ein wenig zu voreilig aus.

Doch die eigentliche These von Connelly folgt in den letzten Kapiteln seines Buches. Sie beruht auf der Beschreibung der zunehmend Eigendynamik eines „Systems ohne Hirn“. Bevölkerungspolitik blieb ein Spielball der internationalen Politik, gleichzeitig unterlag sie aber einer weiteren, epistemischen Umwälzung. Statt eines rassischen Diskurses verstärkte sich nun wieder die Diskussion um sozialeugenische Fragestellungen. Schließlich stellte sich etwa für die amerikanische Gesellschaft die Frage, wie sich die überproportionale Zunahme von armen, schlecht ausgebildeten Bevölkerungsschichten auf die Sicherheitslage des eigenen Landes auswirken würde. Im Zuge der gesellschaftlichen Individualisierungs- und Liberalisierungsprogramme der 60er und 70er Jahre wurde auch der Zwangscharakter der Bevölkerungsprogramme in Frage gestellt. Statt hierauf allerdings mit einer Einstellung der kostenintensiven Programme zu reagieren, wurden diese nun in scheinbar wertneutrale Angebote an die Bevölkerung umdefiniert und große Mengen Geld zu Verfügung gestellt. Das grundsätzliche Urteil Connellys über die Hochphase der internationalen Programme in den 70er Jahren ist unmissverständlich: zuviel Geld für zu wenig Ideen. Stattdessen wurden die Bevölkerungsexperten in den Entwicklungsländern zu Trägern einer zivilisatorischen Mission in den scheinbar undurchdringlichen Weiten der demografischen Problemzonen. (S. 312) In den Analysen der postkolonialen Bilderwelten der Experten und Programmverwalter und ihre Einordnung in einen langen Diskurs, der bis zu Rudyard Kipling zurückreicht, erreicht Connellys Untersuchung zweifellos eine beeindruckende Tiefenschärfe. Die Spätgeschichte der entsprechenden Programme war damit auch deutlich von der Entkolonisierung und den entsprechenden Konflikten gekennzeichnet. Die internationalen Bevölkerungsprogramme wurden zur Zielscheibe im Kampf gegen die koloniale Dominanz des Westens.

Connellys Untersuchung ist einer der interessanten Fälle transnationaler Geschichtsschreibung, bei der eine Globalgeschichte den regionalen Einzelstudien voraus geht. Er historisiert mit seiner Untersuchung ein Leitmotiv internationaler Politik, dessen Erforschung erst seit kurzem bei den Historikern Konjunktur hat. Die Entschärfung der vermeintlichen „Population Bomb“ 2 ist dabei nicht das Ergebnis internationaler Politik. Sie verweist vielmehr auf das Geflecht, in dem solche Ängste zwischen Zivilgesellschaft, transnationalen Expertencommunities und Internationalen Organisationen verhandelt werden. Der Autor ist sich dabei bewusst, in welchem Maße seine Arbeit von selektiven Perspektiven ausgeht. Die Geschichte der Kontrolle der Weltbevölkerung ist die Geschichte einer höchst heterogenen politischen Bewegung und zugleich eine transatlantische Wissensgeschichte, die zu globalem politischen Aktionismus und einmal mehr zu einer Hierarchisierung der Welt und ihrer Vorstellung beigetragen hat. Seine Geschichte ist weder mit der Geschichte des Kalten Krieges, noch mit der Geschichte von Kolonialismus und Dekolonisierung kongruent. Die Frage, ob die relative Schwäche des Nationalstaates in Connellys Darstellung der spezifischen Konstellation von bevölkerungspolitischen Interessengruppen, der starken Rolle der Zivilgesellschaft oder doch nur den noch mangelnden nationalen Studien zu diesem Thema geschuldet ist, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen. Connelly weiß dies und er lässt gerade deswegen noch viel Platz für neue Perspektiven.

Anmerkungen:
1 Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internatioanlen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997, S. 18-39.
2 Eines der prägnantesten Werke der kollektiven Bevölkerungshysterie: Paul R. Ehrlich, The Population Bomb, New York 1968.

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06.02.2009
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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