S. Antohi u.a. (Hrsg.): Narratives Unbound

Title
Narratives Unbound. Historical studies in post-communist Eastern Europe


Editor(s)
Antohi, Sorin; Trencsényi, Balázs; Apor, Péter
Extent
512 S.
Price
€ 35,95
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

In der internationalen Geschichtsschreibung wird das Epochenjahr 1989 mit Blick auf die Historiographien im vormals sowjetischen Hegemonialbereich in aller Regel als Entideologisierung, als Schub zur Verwissenschaftlichung, als Ende einer Vormundschaft, gar als Befreiung gewertet. Erste Bilanzierungsversuche dieses Wandels zu Beginn des 21. Jahrhunderts tragen denn auch so emphatische Titel wie „Klio ohne Fesseln“ 1 oder, wie im anzuzeigenden Fall, „Narratives Unbound“ – analog zum entfesselten Prometheus sprengt in dieser Perspektive die Muse der Geschichte ihre kommunistischen Ketten. Diese Sichtweise beinhaltet zum einen die zutreffende Beschreibung einer Entgrenzung zuvor eingehegter Geschichtswissenschaften – mit allen positiven, partiell aber auch negativen Folgen wie Populismus, Nationalismus oder neoimperiale Tendenzen; zum anderen aber wird in dieser Perspektive in der Regel übersehen, dass die doppelte, da sowohl ideologisch wie national begründete Deutungshoheit der Historiker im Kommunismus im Zeichen der neuen Konkurrenz von Vergangenheitspolitik als auch zivilgesellschaftlicher Erinnerungskultur einer fortschreitenden Erosion unterworfen ist. Die innerfachliche Pluralisierung seit 1989 und die neue Multiperspektivität finden also ihre Parallele in einer neuen gesellschaftlichen Vielfalt bezüglich der Deutung der Geschichte, im Auftreten zahlreicher zusätzlicher Akteure, welche den Anspruch auf Mitwirkung bei der Formulierung des nationalen Master-Narrativs erheben – und diesen nicht selten erfolgreich durchsetzen. Waren in der Parteidiktatur Historiker die Torwächter der Monopolideologie Marxismus-Leninismus, so können sie sich im vielstimmigen und multimedialen Vergangenheitsdiskurs der Gegenwart mitunter nur noch mit Mühe Gehör verschaffen, sind gleichsam vom Status der Hohepriester der Nation im Staatssozialismus auf denjenigen von Bettelmönchen im Parteienpluralismus herabgesunken. Was bedeutet diese Statusinversion für die historische Zunft und wie positioniert sie sich im neuen Wettbewerb um die Lizenz zur Interpretation der Geschichte sowie im Kampf um Ressourcen?

Diesen Fragen gehen die zehn Autorinnen und Autoren des von Sorin Antohi, Balázs Trencsényi und Péter Apor herausgegebene Budapester Sammelbandes nach, der sechs umfangreiche Kapitel à 50-100 Druckseiten zu den Fällen Ungarn, Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Rumänien und Bulgarien enthält. Daran beteiligt haben sich sämtlich jüngere und einschlägig ausgewiesene Historikerinnen und Historiker aus den genannten Ländern. Aufgrund eines längeren Entstehungsprozesses bildet der Band dabei im Wesentlichen die Entwicklungen der 1990er-Jahre ab. Aber auch die Vorgeschichte im Staatssozialismus wird jeweils eingehend einbezogen. Gemäß der Bandsystematik enthalten alle Kapitel Abschnitte zur institutionellen Entwicklung vor und nach 1989, zu den epochenbezogenen historischen Teildisziplinen sowie zum Spektrum von Themen, Theorien und Methoden.

Die Mitherausgeber Balázs Trencsényi und Péter Apor beleuchten in „Fine-Tuning the Polyphonic Past: Hungarian Historical Writing in the 1990s“ ausführlich den inhaltlichen wie institutionellen Wandel der ungarischen Geschichtswissenschaft nach 1989 (S. 1-99). Dabei wird deutlich, dass die Kontinuitätslinien mindestens ebenso stark waren wie die Wirkung der politischen Wende. Bei näherer Betrachtung kam eigentlich nur die Geschichte des ungarischen Judentums und des Antisemitismus als neues Forschungsfeld hinzu – alle anderen Themenbereiche waren bereits zuvor beackert worden. Möglicherweise ist es das generationelle Prisma, welches die beiden Autoren zu partiell anderen Einschätzungen gelangen lässt.

Der Beitrag über Polen, „From the Splendid Past into the Unknown Future: Historical Studies in Poland after 1989“ (S. 101-172), stammt aus der Feder des wohl kenntnisreichsten jüngeren polnischen Experten zur Historiographiegeschichte Ostmitteleuropas, nämlich Maciej Górny, dessen Dissertation zu den Geschichtswissenschaften Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns und der DDR im Staatssozialismus zeitgleich mit dem hier besprochenen Sammelband erschienen ist. 2 Górny zeigt, dass vor allem die Zweite Polnische Republik der Zwischenkriegszeit, die Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg sowie die kommunistische Volksrepublik Polen zum einen neue bzw. neu beleuchtete Forschungsschwerpunkte darstellen, zum anderen Gegenstand zum Teil heftiger öffentlicher Debatten sind.

Mit „A Difficult Quest for New Paradigms: Czech Historiography after 1989“ ist das Kapitel von Pavel Kolář und Michal Kopeček überschrieben (S. 173-248), zwei jüngere Zeithistoriker aus Prag, die gleichfalls bestens als Historiographieexperten ausgewiesen sind. 3 Auch im tschechischen Fall stehen die – nicht durchgängig „goldene“ – Zwischenkriegszeit, der Zweite Weltkrieg samt erster Nachkriegszeit (mit den neuen Themen Holocaust und Vertreibung) und die kommunistische Ära im Zentrum. Von besonderem Interesse ist ihre Darstellung des 1999 los getretenen tschechischen „Historikerstreits“, als Vertreter der älteren Generation mit ihrem doppelten Plädoyer für die Beibehaltung der führenden Rolle der Fachwissenschaft bei der öffentlichen Interpretation der Nationalgeschichte bei gleichzeitiger Zurückhaltung bezüglich allzu (selbst-)kritischer Neubewertung eben dieser Nationalgeschichte auf den Protest jüngerer Fachvertreter stießen.

Die slowakische Historikerin Zora Hlavičková kommt in ihrem Beitrag „Wedged Between National and Trans-National History: Slovak Historiography in the 1990s“ zu dem Befund, dass im Fall der Slowakei nicht das Wendejahr 1989 den eigentlichen Einschnitt darstellte, sondern vielmehr 1993, das Jahr der Eigenstaatlichkeit im Zuge der „samtenen Scheidung“ von den Tschechen (S. 249-310). Dennoch war das brisanteste Thema slowakischer Geschichte und Geschichtsschreibung, die Slowakische Republik von Hitlers Gnaden, in den 1990er-Jahren weiterhin tabu: „The years from 1938 to 1945 have not been subject to Slovak historical self-reflection. However, sooner or later self-reflection on wartime history will be necessary.“ (S. 285)

In “Mastering vs. Coming to Terms with the Past: A Critical Analysis of Post-Communist Romanian Historiography” zeichnen Cristina und Dragoş Petrescu die thematische, institutionelle und methodische Pluralisierung der Geschichtswissenschaft Rumäniens seit 1989 nach (S. 311-408). Ihnen zufolge waren es vor allem Historikerpersönlichkeiten wie Lucian Boia, Bogdan Murgescu, Alexandru Duţu und Alexandru Zub, welche der zu Zeiten des Ceauşescu-Regimes erstarrten Geschichtsforschung neue, vor allem entmythologisierende Impulse verliehen – neben den Einflüssen rumänischer Exilhistoriker.

Ivan Elenkov und Daniela Koleva demonstrieren in ihrem Beitrag „Historical Studies in Post-Communist Bulgaria. Between Academic Standards and Political Agendas“ den relativ geringen Grad an Veränderung, den die bulgarische Geschichtswissenschaft seit 1989 erfahren hat (S. 409-488). Dies lag zum einen daran, dass das marxistische Paradigma hier bereits von 1970 an vom nationalen abgelöst wurde, zum anderen an den starken institutionellen und personellen Kontinuitäten. In thematischer, theoretischer und methodischer Hinsicht konstatieren sie indes eine beträchtliche Ausweitung, auch wenn die Fixierung auf die Nationalgeschichte weiterhin dominant ist. Nicht ganz überzeugend ist ihr Argument, dass die in den 1980er-Jahren einsetzende Faschismus-Debatte unter bulgarischen Historikern und Sozialwissenschaftlern, die in den 1990er-Jahren erneut aufflammte, wissenschaftliche Standards gesetzt habe. Denn der Hauptprotagonist, der Sofijoter Zeithistoriker Nikolaj Poppetrov, war sowohl vor als auch nach 1989 ein krasser Außenseiter, dem die „beamtete“ Historikerschaft keine Karrieremöglichkeit gönnte. Entsprechend konnte Poppetrovs impulsgebender Aufsatz von 1982 nicht in Bulgarien, sondern lediglich in der Bundesrepublik erscheinen. 4 Schwer erklärbar ist, dass in dem Beitrag ein Hinweis auf die autoritative Analyse zum selben Thema aus der Feder dreier bulgarischer Historiker im Zentralorgan der bulgarischen Geschichtswissenschaft aus dem Jahr 2005 fehlt. 5 Überdies ist dieses Kapitel kein Originalbeitrag, sondern bereits 2004 in einem anderen Sammelband zum Thema erschienen. 6

Bedauerlicherweise nicht eingelöst in den sechs Kapiteln wird die Ankündigung des Mitherausgebers Sorin Antohi, in dem Band werde eine vergleichende Perspektive angelegt (S. X), und auch seine eigene, stark selbstbezogene Einleitung „Narratives Unbound: A Brief Introduction to Post-Communist Historical Studies“ unternimmt dies nicht (S. IX-XXIII). Keine Begründung findet sich zur Nichtberücksichtigung der Geschichtswissenschaften Albaniens und der Nachfolgestaaten Jugoslawiens, wie überdies der bis 1989 prägende, zumindest aber präsente sowjetische Einfluss kaum thematisiert wird. Den meisten Beiträgen gemeinsam ist überdies, dass sie zum einen den genannten Sammelband „Klio ohne Fesseln?“ aus dem Jahr 2002 nicht ausgewertet haben (Ausnahmen sind Hlavičková und Elenkov/Koleva) und zum anderen bezüglich der „Vorgeschichte“ der entscheidenden 1970er-Jahre die Ergebnisse eines großangelegten bundesdeutschen Forschungsprojekts über „Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa“ außer Acht lassen. Dieses hatte der Kölner Osteuropahistoriker Günther Stökl konzipiert und ab 1978 mit Mitteln der Stiftung Volkswagenwerk durchgeführt. 7 Der Charakter des Bandes als Arbeitshilfe wird schließlich gravierend durch den Umstand geschmälert, dass es über keinerlei Register verfügt.

„Narratives Unbound“ ist eine wegweisende, ja Maßstäbe setzende Publikation zu den Historiographien Ostmittel- und Südosteuropas im Transformationsprozess. Die sechs ausführlichen, systematischen und bibliographisch gut belegten Länderkapitel legen die Grundlage für die weitere Forschung und bilden ein solides Fundament für künftige vergleichende Untersuchungen. Der genannten Schwächen wegen wäre jedoch eine zweite, aktualisierte, ergänzte, mit einer Gesamtbibliographie versehene, durch Indices erschließbare sowie um einen komparativen Schlussteil erweiterte Auflage außerordentlich wünschenswert.

Anmerkungen:
1 Alojz Ivanišević, u. a. (Hrsg.), Klio ohne Fesseln? Historiographie im östlichen Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, Wien 2002 (= Österreichische Osthefte 44 [2002] 1-2); siehe dazu die Rezension von Pavel Kolář, in: H-Soz-u-Kult, 30.10.2003, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-062>.
2 Maciej Górny, Przede wszystkim ma być narod. Marksistowskie historiografie w Europie Środkowo-Wschodniej [An erster Stelle muss das Volk stehen. Marxistische Historiographie in Ostmitteleuropa], Warszawa 2007; ders., Marxist History of Historiography in Poland, Czechoslovakia and East Germany (late 1940s - late 1960s), in: Balázs Apor / Péter Apor / E. A. Rees (Hrsg.), The Sovietization of Eastern Europe. New Perspectives on the Postwar Period, Washington, DC 2008, S. 249-265; ders., Między Marksem a Palackým. Historiografia w komunistycznej Czechosłowacji [Zwischen Marks und Palacký. Geschichtsschreibung in der kommunistischen Tschechoslowakei], Warschau 2001; sowie ders., Past in the Future. National Tradition and Czechoslovak Marxist Historiography, in: European Review of History 10 (2003) 1, S. 103-114.
3 Pavel Kolář, Geschichtswissenschaft in Zentraleuropa. Die Universitäten Prag, Wien und Berlin um 1900, Leipzig 2008; Michal Kopeček, Hledání ztraceného smyslu revoluce. Zrod a počátky marxistického revizionismu ve střední Evropě 1953-1960 [Die Suche nach dem verlorenen Sinn der Revolution. Geburt und Anfänge des marxistischen Revisionismus in Mitteleuropa 1953-1960], Prag 2009; ders. (Hrsg.), Past in the Making. Historical Revisionism in Central Europe after 1989, Budapest 2008.
4 Nikolaj Poppetrov, Faschismus in Bulgarien. Geschichte und Geschichtsschreibung, in: Südost-Forschungen 41 (1982), S. 199-218. Zur Debatte insgesamt siehe Rumen Daskalov, Die Debatte über den Faschismus in der bulgarischen Geschichtsschreibung, in: Ulf Brunnbauer / Andreas Helmedach / Stefan Troebst (Hrsg.), Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geburtstag, München 2007, S. 507-520.
5 Antoaneta Zaprjanova / Blagovest Njagulov / Ilijana Marčevska, Istoriografijata meždu priemstvenost i promjana [Die Historiographie zwischen Kontinuität und Wandel], in: Istoričeski pregled 61 (2005) 1-2, S. 3-97; siehe auch dies. (Hrsg.), Istoričeskata nauka v Bălgarija – săstojanie i perspektivi [Die Geschichtswissenschaft in Bulgarien – Zustand und Perspektiven], Sofija 2006. Gleichfalls nicht berücksichtigt sind die bereits zuvor erschienenen einschlägigen Untersuchungen von Thomas A. Meininger, A Troubled Transition. Bulgarian Historiography, 1989-94, in: Contemporary European History 5 (1996), S. 103-188; und Wolfgang Höpken „Kontinuität im Wandel“. Historiographie in Bulgarien seit der Wende, in: Ivanišević u. a. (Hrsg.): Klio ohne Fesseln?, S. 487-498.
6 Daniela Koleva, Ivan Elenkov, Did “the Change” Happen? Post-socialist Historiography in Bulgaria, in: Ulf Brunnbauer (Hrsg.), (Re)Writing History. Historiography in Southeast Europe after Socialism, Münster 2004, S. 94-127. Vgl. dazu meine Rezension in: H-Soz-u-Kult, 11.10.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-023>.
7 Siehe dazu Günther Stökl (Hrsg.), Die Interdependenz von Geschichte und Politik in Osteuropa seit 1945. Historiker-Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e. V., Berlin, vom 9.-11. 6. 1976 in Bad Wiessee. Protokoll. Hektographiertes Manuskript. Stuttgart 1977; Schlussbericht über das Forschungsprojekt „Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa“ (Köln, 6. Januar 1983). In: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: <http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=369> – hierin findet sich auch eine Auflistung der Projektpublikationen samt unveröffentlichten Projektergebnissen; sowie Stefan Troebst: Ein vergessener Paradigmenwechsel? Geschichtswissenschaft und Politik im östlichen Europa. In: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: <http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=368>.

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15.10.2009
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