Breyfogle, Nicholas; Schrader, Abby; Sunderland, Willard (Hrsg.): Peopling the Russian Periphery. Borderland Colonization in Eurasian History. London 2007 : Routledge, ISBN 978-0-415-41880-5 304 S. € 115,99

Burbank, Jane; von Hagen, Mark; Remnev, Anatolyi (Hrsg.): Russian Empire. Space, People, Power, 1700-1930. Bloomington 2007 : Indiana University Press, ISBN 978-0-253-34901-9 538 S. $ 75.00

Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Ricarda Vulpius, Abteilung für Geschichte Ost- und Südosteuropas, Ludwig-Maximilian-Universität München

Die Imperiumsforschung zum Russländischen Reich hat seit den 1990er-Jahren und insbesondere seit der Jahrtausendwende einen Aufschwung kaum mehr überschaubaren Ausmaßes erlebt. Neben den neu gegründeten Zeitschriften „Kritika“ und „Ab Imperio“ haben dabei gerade auch Sammelbände der Forschung wesentliche Impulse verliehen.1 Nun sind erneut zwei Sammelbände zum Thema Imperium auf dem Markt, die sich in die Reihe anspruchsvoller und inspirierender Gemeinschaftsprojekte gut einreihen können. Beiden sind drei Herangehensweisen gemeinsam: Erstens spielt für sie die Zäsur von 1917 eine untergeordnete Rolle; vielmehr werden imperiale Kontinuitäten vom Zarenreich bis in die Sowjetzeit herausgearbeitet, darunter besonders das Phänomen der Kolonisierung. Zweitens dient der „Spatial Turn“, die Neubewertung von Raum, Geographie und der Kategorie „Region“, als gemeinsamer Ausgangspunkt, während der ethnisch-nationale Ansatz der Vergangenheit zugeordnet wird. Drittens schließlich wird in beiden Sammelbänden im Einklang mit den Ergebnissen der „Postcolonial Studies“ gegen eine eindimensionale Zentrum-Peripherie-Dichotomie angeschrieben und stattdessen vielmehr die Interaktion verschiedener Regionen sowie die zwischen Russen und Nicht-Russen, zwischen „Fremden“ und „Eingeborenen“ in den Vordergrund gerückt. Die russische „Frontier“ des Zarenreiches, als ein Beispiel, ist damit nicht länger eine eindimensionale Linie entlang russischer Siedlungen, sondern eine multikulturelle Kontaktzone, deren Herrschaftszugehörigkeit sich klaren Zuordnungen häufig entzog.

Besonders gelungen und (weitgehend) kohärent ist der von Nicholas Breyfogle, Abby Schrader und Willard Sunderland herausgegebene Band zur russischen Kolonisierung Eurasiens. Die Herausgeber haben zwölf Beiträge versammelt, die fast alle aus einer Konferenz von 2001 an der Ohio State University hervorgegangen sind. Sie widmen sich zum einen der Frage, wie und warum sich die russische Kolonisierung entfaltet hat, und zum anderen, was die Konsequenzen dieses Phänomens für Russen und Nicht-Russen Eurasiens waren. Während Valerie Kivelson, Brian J. Boeck und Matthew P. Romaniello sich in einem ersten Teil mit der Expansion und den Grenzen der Migration im 17. und 18. Jahrhundert befassen, stellen David Moon, Andrei A. Znamenski, Charles Steinwedel und Jeff Sahadeo vor allem Lokalstudien zur Kolonisierung für das lange 19. Jahrhundert vor. Cassandra Cavanaugh, Lynne Viola, Elena Shulman und Michaela Pohl widmen sich der Siedlungs- und Bevölkerungspolitik unter sowjetischen Bedingungen.

Am Anfang wie am Ende steht dabei Kljutschewskis alte und bis heute unbestrittene Beobachtung, dass es sich bei der Kolonisierung um ein grundlegendes Phänomen der russischen Geschichte gehandelt hat. Freilich plädieren die Herausgeber in ihrer Einleitung dafür, aufgrund der völlig verschiedenen Formen und Verläufe von russischen Kolonisierungen im Plural zu sprechen. Über die unbestritten große Bedeutung des Gegenstandes (und seine immer noch relativ geringe Erforschung) hinaus wird der Leser zur Lektüre dieses Bandes nicht zuletzt deshalb verlockt, weil die Herausgeber in ihrer Einleitung versprechen, die russische Kolonisierung nicht isoliert betrachten, sondern sie vielmehr mit einem internationalen, komparativen Blick untersuchen zu wollen.

Bei aller innovativen Herangehensweise und der Berücksichtigung bisheriger Randthemen, wie zum Beispiel der Wirkung von Kolonisierung auf die Umwelt (David Moon) oder der Erfahrungswelt junger Frauen, die sich von der sowjetischen Propaganda in den Fernen Osten locken ließen (Elena Shulman), sind die meisten Beiträge in dieser Hinsicht enttäuschend. Valerie Kivelson ist eine der wenigen Ausnahmen, die mit ihrer Studie zum Umgang der russischen Kolonisierer mit den indigenen Besitz- und Eigentumsverhältnissen in den eroberten Regionen Sibiriens den komparativen Anspruch eingelöst hat.

Während in den meisten westlichen (Übersee-)Imperien Kolonisierung in der Regel mit der Verdrängung, Enteignung oder Unterjochung der einheimischen Bevölkerung durch die neuen Besitzer einherging, sei Moskaus imperiale Landnahme aufgrund seines spezifischen Verständnisses von Landbesitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert deutlich anders verlaufen. Die russische Regierung habe aufgrund der geringen Besiedlungsdichte in den kolonisierten Gebieten ihre Wertschätzung von neuem Land und Besitz in erster Linie davon abhängig gemacht, wie viele Menschen zur Beackerung oder Bejagung vor Ort zur Verfügung standen, weit weniger hingegen territorialen Besitz als solchen gewürdigt. Aus dieser Sicht, so erklärt Kivelson überzeugend den russischen Verlauf, entwickelte sich eine Politik, der es darum ging, die indigene Bevölkerung als neue Untertanen zu inkorporieren, gute Beziehungen zu ihnen zu unterhalten und mit der Landnutzung konstante Einkünfte für die Staatskasse zu sichern. Es leuchtet ein, dass schon aus Gründen effizienter Steuereinziehung Moskau zudem ein großes Interesse hatte, vorgefundene politische Einheiten innerhalb der Peripherien eher zu erhalten, statt sie zu beseitigen.

Dass es dennoch zu zahllosen Konflikten zwischen neu einwandernden Kolonisten und der eingesessenen Bevölkerung kam, demonstrieren die Beiträge im zweiten Teil des Buches, auf die hier leider ebenso wenig eingegangen werden kann wie auf die zum Teil provokanten Aufsätze (Michaela Pohl) zur sowjetischen Siedlungspolitik. Alfred Rieber reflektiert im anregenden Schluss des Sammelbandes darüber, dass diese Konflikte seit Peter I. nicht zuletzt darin begründet lagen, dass die neuen Siedlungen meist mit utopischen Projekten und oft mit verschiedenen Versionen von Zivilisierungsmissionen verbunden wurden. Die Peripherie des Reiches war das Feld für soziale und politische Experimente der Metropole. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem folgenden Exodus tausender Russen aus den früheren Peripherien und heutigen neuen Staaten, insbesondere aus Kasachstan – dem letzten großen utopischen Projekt der russischen und sowjetischen Geschichte – stellt Rieber zu Recht die Frage, ob die „Entvölkerung“ der Peripherie wohl eine ähnlich tiefgreifende Wirkung auf das Schicksal Russlands haben wird, wie es die Kolonisierung über fast fünf Jahrhunderte hinweg in der Vergangenheit hatte.

Der zweite Sammelband kann zwar die Kohärenz des ersten bei weitem nicht erreichen – sein Themenspektrum ist bei insgesamt 18 Beiträgen zum Russländischen Reich von 1700 bis 1930 zu den Themen „Raum“, „Menschen“, „Institutionen“ und „Designs“ zu disparat. Doch löst er bis auf eine Ausnahme (Jane Burbank) den Anspruch ein, „Imperial Russia“ nicht wie so häufig in der Forschungsliteratur bloß im Sinne einer Bezeichnung für die Ära von Peter I. bis 1917 zu untersuchen, sondern tatsächlich gezielt die imperiale Dimension des Reiches zum Thema zu machen. Neben diesem thematischen Zugriff sind es vor allem die eingangs skizzierten Grundprämissen in der Herangehensweise, die den Band zusammenhalten. Das in den Beiträgen zu Tage tretende Verständnis des Phänomens „Imperium“ könnte hingegen heterogener kaum ausfallen. Diese Bereitschaft, „to let diversity take its own form“ (S. xii), ist zwar angesichts der Vielzahl der seit 1996 veranstalteten Konferenzen, deren Ergebnisse dieser Band versammelt, sowie der Anzahl der involvierten Autoren nicht nur verständlich, sondern auch anregend. Doch wirkt es wie eine verpasste Chance, die einzelnen Autoren nicht explizit zu einer Auseinandersetzung mit dem in der Einleitung dargelegten, eher ungewöhnlichen Imperium-Verständnis der Herausgeber aufgefordert zu haben. Auf diese Weise bleibt es dem Leser überlassen, sich von den völlig unterschiedlichen Prämissen der Autoren zu dem, was im Kern „das Imperiale“ ausmacht, an dieser und jener Stelle überraschen zu lassen.

Mit einer besonderen Überraschung wartet dabei Anatolyi Remnev auf. Während er in seinem Beitrag zu Sibirien und dem Fernen Osten in der imperialen Geographie der Macht die Existenz von Zentrum und Peripherie als entscheidende Bestandteile des Imperiums benennt und dabei auf die Ungleichheit zwischen den peripheren Regionen in ihrem Verhältnis zum Zentrum hinweist, trägt er als einer der drei Herausgeber in der Einleitung andere Thesen mit. Gemeinsam mit Jane Burbank und Mark von Hagen plädiert er nicht nur dafür, den Imperium-Begriff von seiner negativen Konnotation aus der Blütezeit der Nationalbewegungen und späteren Nationalstaaten zu befreien. Darüber hinaus gibt er zusammen mit den anderen Herausgebern das von den meisten Imperiumsforschern als definitorisch essentiell betrachtete Machtgefälle zwischen Metropole und Peripherie zugunsten einer Vorstellung auf, wonach die Existenz eines demokratisch organisierten Imperiums zumindest nicht ausgeschlossen wird. Unter „imperial“ verstehen die Herausgeber insofern nur die Präsenz von Vielfalt in Organisation, Kultur, Religion und Ethnizität innerhalb einer politischen Gemeinschaft.

Abgesehen von manchen (vielleicht auch anregenden) Widersprüchen im Imperium-Verständnis bietet der Band zahlreiche herausragende Beiträge renommierter Russland-Forscher. Zu ihnen zählt der Aufsatz von Willard Sunderland, der aufzeigt, dass und wie sich in der russländischen Elite des 18. Jahrhunderts ein territoriales Bewusstsein herausbildete. Im Unterschied zum Verständnis des 17. Jahrhunderts (vgl. Kivelsons Beitrag im anderen Sammelband) wurde Landnahme, so Sunderland, nun zunehmend als eigenes Ziel erkannt. Größe und Expansion galten mehr und mehr als nationale Errungenschaften. Dabei habe vor allem die Wahrnehmung der jahrhundertelangen russischen Kolonisierung als einer organischen Ausweitung des Mutterlandes zur Verzahnung des entstehenden nationalen Bewusstseins mit dem imperialen Raum geführt – eine Fusion, von der wir wissen, dass sie Russland bis heute zutiefst geprägt hat.

Mit den vorliegenden zwei Sammelbänden hat die „New Imperial History“ weitere wichtige Anstöße bekommen. Darüber hinaus vermittelt ihre Lektüre einschließlich der Hinweise auf zahlreiche Forschungsdesiderate den Eindruck, als könne der "Imperial Turn" noch eine ganze Weile andauern.

Anmerkungen:
1 Dazu zählen vor allem: Brower, Daniel R.; Lazzerini, Edward J. (Hrsg.), Russia's Orient: Imperial Borderlands and Peoples, 1700-1917, Bloomington 1997; Evtuchov, Catherine u.a. (Hrsg.), Kazan, Moscow, St. Petersburg: Multiple Faces of the Russian Empire, Moskau 1997; Burbank, Jane; Ransel, David (Hrsg.), Imperial Russia: New Histories for the Empire, Bloomington 1998; Geraci, Robert P.; Khodarkovsky, Michael (Hrsg.), Of Religion and Empire: Missions, Conversions, and Tolerance in Tsarist Russia, Ithaca u.a. 2001.

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04.04.2008
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