Thomas Angerer Jörg Baberowski Jan C. Behrends Susanne Benöhr-Laqueur John Breuilly Susanna Burghartz Jacques Ehrenfreund Norbert Finzsch Mary Fulbrook Peter Funke Martin H. Geyer Rebekka Habermas Johannes Helmrath Hartmut Kaelble Karl Christian Lammers Achim Landwehr Dieter Langewiesche Ursula Lehmkuhl Chris Lorenz Ralf Lusiardi Mischa Meier Pierre Monnet Igor Narskij Wilfried Nippel Marek Jan Olbrycht Jürgen Osterhammel Ilaria Porciani Christine Reinle Luise Schorn-Schütte Hubertus Seibert Hannes Siegrist Claudia Tiersch István György Tóth Beate Wagner-Hasel Michael Zeuske Susan Zimmermann
| | Dr. Andreas FahrmeirJohann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt Kurzer Lebenslauf mit den wichtigsten akademischen StationenAufgewachsen in Oberursel/Ts., Schulabschluß 1988 an der Kaiserin Friedrich Schule, Bad Homburg Nach einem Semester Studium der Chemie ab Sommersemester 1989 Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Anglistik und Geschichte der Naturwissenschaften an der JW Goethe Universität, Frankfurt/Main. Visiting student (mit denselben Fächern) 1991/92 an der McGill University, Montréal; M. A. 1994 Promotion 1995-1997 in Geschichte am Sidney Sussex College, Cambridge (Citizens and Aliens: Foreigners and the Law in Britain and the German States, 1789-1870, publiziert New York/Oxford 2000) 1997 bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut London Dezember 2001 Habilitation an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt (Das Stadtbürgertum einer Finanzmetropole: Untersuchungen zur Corporation of the City of London und ihres Court of Aldermen, 1688-1900) 2002 Berater bei McKinsey & Company, Inc. Zur Zeit Heisenberg-Stipendiat am Historischen Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt Wichtige Veröffentlichungen: Mit Sabine Freitag (Hrsg.), Mord und andere Kleinigkeiten: Ungewöhnliche Kriminalfälle aus sechs Jahrhunderten (München 2001) [Festschrift für Peter Wende];
mit Olivier Faron und Patrick Weil (Hrsg.), Migration Control in the North Atlantic World. The Evolution of State Practices in Europe and the United States from the French Revolution to the Inter-War Period (New York/Oxford 2003);
mit Elfie Rembold (Hrsg.), The Representation of British Cities. Transformations of Urban Space. Bodenheim 2003;
"Ehrbare Spekulanten. Stadtverfassung, Wirtschaft und Politik in der City of London, 1688-199. (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 55). München 2003;
"Zur "Krise" der Geschichte - Anmerkungen zu einer aktuellen Diskussion", in: HZ 2003 (vermutlich April).
Mitgliedschaften und Auszeichnungen: Studienstiftung des deutschen Volkes; Howard Research Studentship 1995-1997; Thirlwall Prize und Seeley Medal (Cambridge) 1999 (für "Citizens and Aliens") Fragen zur historischen Forschungslandschaft und zu aktuellen Debatten2. a) Wie kamen Sie zur Geschichtswissenschaft? Was hat Sie motiviert, Geschichte zu Ihrem Beruf zu machen? Durch das Interesse an den Rätseln und Geschichten der Vergangenheit. Für das Geschichtsstudium waren die späten 80er Jahre m. E. eine besonders spannende Zeit. Der Kontrast zwischen dem Unterricht in der Schule, der älteren Literatur, die ich bis dahin gelesen hatte, und der quasi-naturwissenschaftlichen Methodik der Annales-Schule, der historischen Sozialwissenschaft, der "Cambridge School" und den Ergebnissen der "Großforschungsprojekte" zum 19. Jahrhundert war beeindruckend. Zumal in Frankfurt herrschte damals eine besondere Aufbruchstimmung. Es schien auf vielfache Art möglich, mit Mythen aufzuräumen und gängige Erklärungsmuster grundlegend zu revidieren. Das war auch der Grund, warum ich die ‚Wissenschaft' immer weiter anregend fand. Aber Berufe hat man - zumal in den Geisteswissenschaften - in der Regel nur noch auf Zeit. 2. b) Die Geschichtswissenschaften haben in den zurückliegenden Jahrzehnten zahlreiche Erweiterungen und Neuorientierungen der Frageansätze und Forschungsperspektiven erfahren. Welche halten Sie für die interessanteste und folgenreichste? Obwohl es langweilig, altmodisch und überholt klingt: Immer noch die historische Sozialwissenschaft, insofern sie auf eine methodisch reflektierte und rationale Überprüfung von historischen Thesen anhand einer ausreichenden Quellengrundlage zielte. Das Potential (wie auch die besondere Schwierigkeit) der Kulturgeschichte liegt eben darin, daß sie auf dieser Grundlage aufbauen kann (indem sie Lücken thematisiert), aber auch aufbauen muß. 2. c) Sehen Sie Forschungsfelder, denen man künftig mehr Aufmerksamkeit widmen sollte? Eher nicht, weil die historische Forschung – zum Glück – sehr breit aufgestellt und methodisch wie inhaltlich breit orientiert ist. Wichtig ist, diese Vielfalt zu erhalten, und zu verhindern, daß sie durch kurzfristig orientierte Anreize zur mehr „Drittmittelforschung“ in bestimmte Richtungen beschnitten wird. 2. d) Sollten sich Fachhistoriker mit historischen Argumenten in aktuellen politischen Debatten zu Wort melden, wie es jüngst wieder häufiger zu beobachten ist? Braucht unsere Gesellschaft mehr historische 'Politikberatung'? Teilnahme an der Debatte – auf jeden Fall. All publicity is good publicity – für das Fach wie für einzelne seiner Vertreter. Ob es gleich historische Politikberatung in einem formalisierten Sinn sein muß (die sicher „diskret“ ohnehin stattfindet) kann man sicher kontrovers diskutieren, aber zeitgemäße, fachlich versierte und zugleich an die Öffentlichkeit gerichtete und von dieser wahrgenommene Beiträge zu aktuellen Fragen wären in jedem Falle zu begrüßen. 2. e) Die Universitäten kämpfen mit überfüllten Hörsälen und leeren Kassen, ringen um neue, kürzere Formen des Studierens (BA, MA). Welche Folgen würden Ihrer Meinung nach Studiengebühren und die Möglichkeit der Auswahl der Studenten durch die Universität für Lehre und Forschung in den Geschichtswissenschaften haben? Es ist deutlich, daß die deutsche Universitätsreform im Moment bestrebt ist, den Anschluß an ein – zum Teil konstruiertes – „angelsächsisches“ System zu finden. Darauf deutet nicht allein die Nomenklatur der zukünftigen Abschlüsse hin, sondern auch die Diskussion um englischsprachige Vorlesungen und Studiengänge oder die neue Selbstbeschreibung einer wichtigen historischen Fakultät als „School of Historical Studies“.
Die Voraussetzungen des englischen und amerikanischen Hochschulsystems werden aber kaum diskutiert. Für die Mehrheit der Studierenden ist das Studium bis zum BA eine Grundlage für jede Karriere, auf die eine weitere Ausbildung in einem Betrieb oder in einer „Graduate School“ vorbereitet. Das Grundstudium vermittelt daher Kenntnisse, aber vor allem Fähigkeiten. Dies wird in der intensiven Zusammenarbeit zwischen kleinen Gruppen von Studierenden und Lehrkräften erreicht. Die Universität bietet für die Dauer des Studiums einen Lebensraum und eine „peer group“ gleichaltriger Studierender, akzeptablen Wohnraum, Vereine, Verpflegung für alle Mahlzeiten, Sportanlagen und Sportvereine usw. Sie ist ganz auf junge Vollzeitstudierende ausgerichtet (in Cambridge z. B. liegt die Altersgrenze für „non-mature“ undergraduates bei 21 Jahren), und zukünftigen Arbeitgebern ist bewußt, daß sie die eigentliche fachliche Ausbildung der Graduierten übernehmen werden.
Es scheint schwer vorstellbar, daß die Übernahme des Modells schon dann erfolgreich sein kann, wenn nur Abschlüsse umbenannt und Studiengebühren verlangt werden.
Um das Finanzloch zu stopfen, müssen Studiengebühren hoch sein. Die Einführung von ₤1000 Studiengebühren pro Jahr in England haben gezeigt, daß diese eher moderaten Gebühren, die bei extremer Bedürftigkeit ganz oder teilweise erlassen wurden, den Zugang zur Universität sozial spürbar verengten. Inzwischen hat sich die Diskussion deutlich verschoben. Das Gebührenziel in England liegt nun bei ₤3000 bis ₤4000 pro Jahr (zahlbar – wie in Australien – als Zusatzsteuer nach Studienabschluß); Harvard kostet rund $26.000 plus ca. $10.000 für Unterkunft und Verpflegung; Berkeley $16.000 (nur Gebühren); an der International University Bremen betragen die Gebühren für „Vollzahler“ €15,000 (zuzüglich €3.600 für Wohnung und Verpflegung für 9 Monate). Dies würde gewiß zu einer Serviceorientierung gegenüber den Studierenden führen, und könnte Studierende mehr für das teure und daher ‚wertvolle’ Studium motivieren. Fachbereiche hätten die Wahl, ob sie sich durch Forschungsprojekte und/oder besonders erfolgreiche Lehre profilieren wollen. Das wäre vielleicht ein besseres System der Incentivierung als die gegenwärtige Fixierung auf (fast ausschließlich öffentliche) „Drittmittel“. Der Preis sind aber Zugangsbeschränkungen, die durch Stipendien vermindert werden können. Diese Stipendien werden die Lockung der Einnahmen aber erheblich vermindern – in Harvard erhalten laut eigenen Angaben 70% der Studierenden finanzielle Unterstützung in irgendeiner Form.
Es gibt ein weiteres Risiko: Wenn die Diskrepanz zwischen Angebot und Gebühr groß ist, könnte dies die Abwanderung von Studierenden in Länder mit einem besseren Preis/Leistungsverhältnis, etablierten und klar profilierten Abschlüssen, die international anerkannt sind eher verstärken.
Die Vorstellung, jede Hochschule habe in unserem Fach die große Auswahl der Studierenden, ist bis jetzt noch nicht getestet worden, zumal die Zahl der Studienplätze eher wachsen soll. Gewiß, Cambridge, Oxford, Edinburgh, Harvard, Yale usw. können sich die Rosinen aus dem Kuchen picken und ein einzigartiges Niveau erreichen. Im Moment sind dramatische Qualitätsunterschiede der Hochschulen in Deutschland aber nicht vorhanden. Für angehende Studierende ist zudem die Rangfolge der Hochschulen nicht transparent, da es keine allgemeinverbindliche und aussagekräftige Bewertung gibt. Vermutlich hätten wenige Universitäten mehr Bewerbungen als Plätze, während die Mehrzahl sich eher in einer ähnlichen Lage befänden wie die englischen Universitäten, die man vor allem aus den Annoncen in der Londoner U-Bahn oder in Zeitungen kennt, und die Quoten füllen müssen um den Abbau von Fachbereichen zu verhindern
3. Stellen Sie bitte Ihren persönlichen Favoriten unter den historischen Büchern des Jahres 2002 kurz vor und erläutern Sie Ihre Wahl. (15-20 Zeilen.) Nonn, Christoph: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich. Göttingen 2002.
Das Buch beginnt wie ein guter Krimi – eine zerstückelte Leiche, eine lange Reihe von Verdächtigen, inkompetente Polizisten und Gerichtsmediziner vor Ort, die Spuren falsch interpretieren oder ganz vernichten, unzuverlässige Zeugen, politische Intrigen, öffentlicher Druck. Es erweist sich als eine der faszinierendsten mikrohistorischen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte. Der Schauplatz ist das ostpreußische Städtchen Konitz, wo im März 1900 ein Gymnasiast ermordet wurde. Die Suche nach dem Täter, der offenbar Metzger oder Chirurg bzw. Sanitäter war, blieb – bis heute – erfolglos. Manche Bewohner der Stadt und der umliegenden Dörfer vermuten einen jüdischen Ritualmord, es kam zu antisemitischen Ausschreitungen. Finsterstes Mittelalter im beginnenden 20. Jahrhundert also, vielleicht sogar ein Beweis für latenten mörderischen Antisemitismus, der nur durch die am Schluß doch einigermaßen rigoros durchgreifende preußische Staatsmacht in Zaum gehalten werden konnte, wie Helmut Walser Smith in „Die Geschichte des Schlachters“ (ebenfalls 2002) meint? Oder sind die Dinge doch komplizierter? Christoph Nonn stellt moderne Fragen – nach der Ausbreitung von Gerüchten, nach der Struktur von Erinnerung und der Strukturierung von Erzählungen durch die Zeugen – ohne jedoch die klassischen zu vernachlässigen: Wem nutzt eigentlich welche Aussage, welche Haltung, welches Motiv?
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