Prof. Dr. Jörg BaberowskiHumboldt-Universität zu Berlin Lebenslauf24. 03. 1961 geboren in Radolfzell, Kreis Konstanz Juni 1982 Abitur in Holzminden, Niedersachsen WS 1982/83-SS 1988 Studium der Geschichte und Philosophie an der Universität Göttingen Juni 1988 Magisterexamen in den Fächern Geschichte und Philosophie. Thema der Magisterarbeit: "Politische Justiz im ausgehenden Zarenreich 1864-1917" April 1989-August 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Osteuropäische Geschichte an der Universität Frankfurt am Main April 1991-Oktober 1991 Archivreise nach Moskau und Leningrad September-Oktober 1992 Archivreise nach St. Petersburg Januar 1994 Promotion zum Doktor der Philosophie an der Historischen Fakultät der Universität Frankfurt am Main. Titel der Dissertation: "Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864-1914", erschien 1996 als Buch 1994-2000 Assistent am Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen September-Oktober 1995 Archivreise nach St. Petersburg Februar-April, September-Oktober 1996 Archivreise nach Moskau Juni 1998 Organisation einer von der Thyssen-Stiftung finanzierten Konferenz zur Nationalitätenpolitik im Zarenreich und in der Sowjetunion (einige Beiträge erschienen 1999 in einem Themenheft der Zeitschrift "Jahrbücher für Geschichte Osteuropas" August-November 1998 Archivreise nach Baku, Azerbajdan September 2000 Annahme der Habilitationsschrift "Auf der Suche nach Eindeutigkeit. Zivilisatorische Mission, Nationalismus und die Ursprünge des Stalinismus in Azerbajdan 1828-1941" durch die Geschichtswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen Januar 2001 Habilitationscolloquium und Verleihung der Venia Legendi für Osteuropäische Geschichte durch die Geschichtswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen Seit April 2001 Vertretung des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Universität Leipzig Forschungsschwerpunkte: Geschichte des späten Zarenreiches von der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 bis zur Revolution von 1917 und der frühen Sowjetunion bis zum Tod Stalins 1953. Geschichte des Imperiums und seiner asiatischen Peripherie, Nationalismus und kulturelle Nationsbildung im Zarenreich und in der Sowjetunion. Kulturgeschichte des Rechts und der Politik. Stalinistischer Terror. Monographien- Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864-1914, Frankfurt am Main 1996.
- Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München/Stuttgart 2002.
- Stalinismus in der Sowjetunion, in Vorbereitung, München/Stuttgart 2003.
Aktuelle ForschungsschwerpunkteIch arbeite derzeit an einem Essay über Stalinismus in der Sowjetunion und an einer kleineren Abhandlung über Arbeiterkultur im späten Zarenreich. Damit verbindet sich ein Forschungsprojekt über Unterschichtengewalt in staatsfernen Gesellschaften, das ich gemeinsam mit meinen Leipziger Kollegen Michael Riekenberg (lateinamerikanische Geschichte) und Ulf Engel (Afrikanistik) betreiben möchte. Sobald diese Projekte abgeschlossen sind, möchte ich mich der Rolle Stalins im Stalinismus zuwenden, genauer: der Funktion der Stalinschen Netzwerke als konstitutiven Elementen des stalinistischen Herrschaftssystems. In Anlehnung an Ian Kershaws Konzept des "Führers" in der Gesellschaft möchte ich zeigen, welche Bedingungen es waren, die eine Kreatur vom Schlage Stalins ermöglichten und an der Macht hielten. In diesem Zusammenhang soll auch der "georgische" Stalin Konturen gewinnen. Dieser Stalin verklammerte symbolisch das Vielvölkerimperium. Als Nichtrusse konnte er diesen Anspruch auf Repräsentation des Imperiums zureichender verkörpern als andere. Stalin stand in den Traditionen der georgischen Gewaltkultur, die sich, als er zum Alleinherrscher wurde, mit den Kriegserfahrungen und Gewaltattitüden der russischen Bolschewiki zu einem explosiven Gemisch verbanden. Kurz: es geht um eine Kulturgeschichte der politischen Macht im Medium Stalins. Dieses Projekt ist auf eine Dauer von 5-6 Jahren angelegt. Fragen zur historischen Forschungslandschaft und zu aktuellen Debatten2. a) Wie kamen Sie zur Geschichtswissenschaft? Was hat Sie motiviert, Geschichte zu Ihrem Beruf zu machen? Ich interessierte mich für fremde kulturelle Kontexte, die ich verstehen lernen wollte. Das Mittelalter war ein solcher Kontext, der fremd und faszinierend war und dem ich näherkommen wollte. Ich begann deshalb mit dem Studium der mittelalterlichen Geschichte. Dabei lernte ich auch mehr über mich und die Welt, aus der man kommt, kennen. Was und wie dieser Gegenstand an deutschen Universitäten gelehrt wurde, hat mich jedoch nicht recht überzeugen können. Wahrscheinlich waren aber auch meine Lateinkenntnisse nicht gut genug. Dann also russische Geschichte, so dachte ich mir, denn das war damals, in den 80er Jahren, die einzige Möglichkeit, im Fach Geschichte einen außereuropäischen Kulturraum kennenzulernen. Es war also die Neugierde auf das Fremde und der Drang, das heute Unverständliche für mich zu entschlüsseln, das mich zur Geschichte brachte. 2. b) Die Geschichtswissenschaften haben in den zurückliegenden Jahrzehnten zahlreiche Erweiterungen und Neuorientierungen der Frageansätze und Forschungsperspektiven erfahren. Welche halten Sie für die interessanteste und folgenreichste? Die Debatte um die Kulturgeschichte hat mich zweifellos am meisten beeindruckt, zum einen, weil sie das philosophische Denken in die Geschichte zurückbrachte und den Menschen als Schöpfer und Deuter der Strukturen, die Macht über ihn ausüben, in die Wirklichkeit zurückgeholt hat. Die Abkehr von Theorien linearer Modernisierung und von den Strukturen, in denen keine Menschen mehr vorkamen, ermöglichte es den Russland-Historikern, ihren Gegenstand neu zu konstituieren. Jetzt kam ein Russland zu Wort, dass unter den Strukturen der Sozialhistoriker zum Verschwinden gebracht worden war, ein Russland, das nicht rückständig, sondern anders war. Wahrscheinlich profitierte die Russland-Historiographie vom Wandel der Methoden mehr als die europäische Geschichte, weil sich in diesem Wandel der Schleier abwarf, den die eurozentrischen Phasen- und Strukturmodelle über die fremden Kontexte gelegt hatten. Man sah die eigenen Voraussichten in der Konfrontation mit dem Leben jener, die einem in den Texten begegneten. Das freilich hätte der philosophisch informierte Historiker auch früher schon wissen können. Nun ist das aber kein Einwand gegen die Kulturgeschichte und ihre Methoden. 2. c) Sehen Sie Forschungsfelder, denen man künftig mehr Aufmerksamkeit widmen sollte? Ich kann hier nur für die Geschichte Russlands sprechen, weil ich manche Themenfelder nicht vollständig überblicke, andere auch gar nicht kenne. Es fehlt an einer Kulturgeschichte der Politik, des politischen Handelns im Zarenreich und in der Sowjetunion. Wie politische Stile inszeniert wurden, in welchem Modus Herrscher und Untertanen einander begegneten - das war in einem Land, dessen kommunikative Strukturen nur schwach entwickelt waren, von großer Bedeutung, oftmals bedeutender als die Inhalte, die in solchen Formen aufgehoben waren. Angesichts der kulturellen und ethnischen Heterogenität des Zarenreiches und der Sowjetunion fällt das umso deutlicher ins Gewicht. Wenn ich es richtig sehe, hat es die Kulturgeschichte der Politik auch unter den Deutschland-Historikern noch nicht zur Prominenz gebracht. Nur auf diesem Weg - der Anthropologisierung der Geschichtsforschung - ist es auch möglich, die nichtrussischen Regionen des Imperiums in die Geschichte zurückzuholen. Dieses Forschungsfeld ist leer. Jemand sollte es deshalb beackern. 3. Stellen Sie bitte Ihren persönlichen Favoriten unter den historischen Büchern des Jahres 2002 kurz vor und erläutern Sie Ihre Wahl. (15-20 Zeilen.) P. Holquist, Making War, Forging Revolution. Russia's Continuum of Crisis, 1914-1921, Cambridge/Mass. 2002
"Making War" ist eine fundamentale Kritik an der bisherigen Historiographie über die Entstehung des bolschewistischen Staates. Diese hatte die Ursprünge des sowjetischen Experiments in der Revolution des Jahres 1917 ausgemacht. Holquist ordnet die Revolution in ein Kontinuum von Mobilisierung und Gewalt ein, das im Ersten Weltkrieg begann und sich bis in den Bürgerkrieg fortsetzte. Die bolschewistische Praxis der Mobilisierung, der Gewalt, der Kategorisierung und Stigmatisierung sozialer und etnischer Kollektive stand demnach in der Tradition europäischer und russischer Kriegstechniken. In diesem Sinn war die Revolution kein Bruch, sondern Höhepunkt einer gewaltsamen Entwicklung, die 1913 begonnen hatte. Holquist schreibt Revolution in die Geschichte des Großen Krieges in Europa ein und integriert, was Bolschewismus genannt werden kann, in einen europäischen und russischen Kontext.
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